0234 - Macht und Mythos
Der Inspektor zuckte mit keiner Wimper. Er hielt den Arm weiter ausgestreckt und zitterte auch nicht, als Kara, die Schöne aus dem Totenreich, einen zweiten Schnitt führte, so dass eine kreuzförmige Wunde entstanden war. Eine Wunde wie ein Kreuz.
Und an das Kreuz musste wohl jeder von ihnen denken, denn es spielte in dem Fall eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Rolle überhaupt. Um das Kreuz und dessen Geheimnis drehte sich alles.
Und um ein Buch, in dem die Geheimnisse des Kreuzes endlich erklärt waren. Es sollte in die Hände des Sinclair-Teams gelangen. Fast wäre es soweit gewesen, da schlugen die Schwarzblütler eiskalt zu und rissen das Buch wieder an sich. Aber nicht nur das. Auch John Sinclair wurde vom magischen Sog des Spuks gepackt und wahrscheinlich in das Land, das nicht sein darf, katapultiert. Eine schlimme, grausame Sache, so dicht vor dem Ziel die große Niederlage zu erleiden, aber für die Schwarzblütler war es lebensbedrohend, wenn das Buch in die Hände des Geisterjägers gelangte, denn dann erfuhr er Dinge, die lieber im verborgenen bleiben sollten.
Johns Freunde gaben nicht auf. Sie wollten den Geisterjäger retten. Durch einen Versuch, der bisher selten gestartet worden war. Dafür machte sich Kara stark. Sie erinnerte sich an die uralte Drachenbeschwörung, die mit dem Blut eines Gerechten durchgeführt werden musste.
Man brauchte dazu nicht viel. Wichtig waren das Blut und das Bild. Dieses Bild war irgendwann im Mittelalter als Holzschnitt entstanden. Es zeigte ein Motiv, das zu den Grundmanifesten der christlichen Lehre gehörte.
Der Erzengel Michael hielt sein gewaltiges Schwert mit beiden Händen am Griff umklammert und rammte die Klinge in den Körper eines sich vor seinen Füßen windenden Drachens, der das Böse symbolisierte. Dieser Drache war die Hölle, war der Teufel in einer Person, und der Erzengel Michael vernichtete ihn.
Ein Bild, das symbolisch war. In zahlreichen Büchern war dieser mittelalterliche Holzschnitt abgebildet, der Sieg des Guten über das Böse. Der Erzengel hatte es vor undenklichen Zeiten geschafft.
Die Freunde des Geisterjägers hofften, dies wiederholen zu können.
Das Blut des Chinesen Suko fiel in schweren Tropfen nach unten. Sie klatschten auf das Bild, wo sie einige Spritzer in die Höhe warfen, bevor sie zerliefen.
Kara nahm die Hand wieder zurück. Die Schwertspitze zeigte einen roten Schimmer. Dann nickte die Schöne aus dem Totenreich dem unbeweglich dastehenden Inspektor zu.
»Reicht es?« fragte Suko leise.
»Ja.«
Die anderen Personen atmeten auf. Außer Suko und Kara befanden sich noch Sheila Conolly, ihr Mann Bill, Sir James Powell, Myxin und die Wölfin Nadine in der Nähe. Gerade sie wurde von dem Superintendenten hin und wieder mit skeptischen Blicken bedacht.
Sie hatten den Wohnraum der Conollys verlassen und befanden sich hinter dem Haus auf dem Rasen. Kara hatte für diese gefährliche Beschwörung einen ruhigen Platz erbeten. Nach einigem Überlegen hatte man sich geeinigt, zu den Conollys zu fahren.
Sheila und Bill wussten inzwischen Bescheid, um was es ging. Mit atemloser Spannung hatten sie zugehört, was bisher geschehen war. Sie wussten jetzt, daß Lupina, die Königin der Wölfe, nach wie vor existierte, dass sie sich sogar mit Lady X, ihrer Mörderin, zusammengetan hatte und dass der Spuk die dritte, äußerst gefährliche Kraft in diesem tödlichen Spiel war.
Wenn drei Dämonen so konzentriert angriffen, dann musste der geheimnisvolle Titel »Sieben Siegel der Magie« eine unermessliche Bedeutung für den Fall haben.
Eine Drachenbeschwörung! Auch Kara hatte ein wenig Furcht davon. Es waren Jahrtausende vergangen, seit sie der Beschwörung zum letzten Mal beigewohnt hatte, und sie fragte sich, ob sie es jemals schaffen konnte.
Diese Beschwörung war damals in Atlantis erfunden wurden. Zu der Zeit gab es noch kein Christentum, aber die Szene, die das Bild darstellte, konnte sich am Beginn der Welt abgespielt haben, und dieser Zeitpunkt war wesentlich älter als der Kontinent Atlantis.
Man sprach nicht. Jeder beschäftigte sich mit seinen eigenen Gedanken. Am Himmel leuchtete kein Mond. Es schien, als habe jemand einen gewaltigen Vorhang vor die Gestirne gezogen.
Die Freunde hatten sich in den Garten der Conollys begeben. Eine seltsame Nacht umgab sie. So schwül und drückend, völlig ungewöhnlich für den Herbstmonat September. Wenn der Wind über das Gelände strich, dann wehte er aus Richtung Süden.
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