076 - Der magische Schrumpfkopf
schreien, daß man es auf dem gesamten Fabrikgelände hörte. Dann schwoll sein Hals an, die Adern traten hervor, und das Gesicht lief puterrot an. Wenn er sich in wilde Wut geplärrt hatte, begann er zu wüten. Er schlug um sich, trat, biß, kratzte, spuckte. Da er sehr stark war, konnte ein Mann allein kaum mit ihm fertig werden.
Frederik Lord hatte einen Pfleger für seinen Sohn engagiert, einen großen, bulligen, stark behaarten Mann namens Karl Meier. Aber selbst Meier brauchte oft Hilfe, wenn er Dieter bändigen sollte.
Aus den nichtigsten Anlässen konnte Dieter einen Tobsuchtsanfall bekommen, etwa wenn ihm jemand ein Spielzeug wegnahm oder ihn zu etwas aufforderte, wozu er keine Lust hatte. Es konnte eine Kleinigkeit sein, wie aus der Wohnung in den Garten zu gehen oder etwas zu essen, was er an diesem Tag gerade nicht mochte.
Einen der Arbeiter aus der Fabrik, die Meier bei Dieters Tobsuchtsanfällen halfen, verletzte der Junge mit einem Tafelmesser so schwer, daß der Mann wochenlang im Krankenhaus liegen mußte. Die Sache wurde vertuscht. Frederik Lord zahlte eine Menge Schmerzensgeld.
Von da an wurde es schwer, Helfer zu finden, wenn Dieter tobte. Nur zwei Männer in der Fabrik waren bereit, Lord und Meier beizustehen, gegen gute Bezahlung versteht sich. Nachts indessen waren die beiden Männer mit dem Schwachsinnigen allein.
Manchmal, wenn Dieter besonders heftig tobte, Schaum vor dem Mund und irre Augen hatte, konnten sie nichts anderes tun, als ihn gewähren zu lassen. Er zerschlug dann Möbel, warf sie aus dem Fenster, verletzte sich mitunter so an Scherben, daß die Wohnung wie ein Schlachthaus aussah, schlug, trat Türen ein und brüllte wie ein Tier.
Es ließ sich nicht feststellen, wodurch die Anfälle hervorgerufen wurden. In der Villa Lord gaben sich Hirnspezialisten, Psychiater und andere Kapazitäten die Klinke in die Hand. Lord zahlte ein Vermögen an die Ärzte, ohne Hilfe für seinen Sohn zu finden.
Meist wurde ihm geraten, den Jungen in ein Heim oder eine Anstalt zu geben. Davor schreckte Lord zurück. Er wußte, weshalb Dieter schwachsinnig geworden war. Er war schuld, er, Frederik Lord, ganz allein. Oft, wenn er seinen Jungen sah, sagte sich Frederik Lord, daß gar kein Leben besser sei als ein solches Leben. Er hatte erzwungen, unter Hinzuziehung dunkler, unheimlicher Kräfte, daß Dieter am Leben blieb.
Aber um welchen Preis!
Glücklich war Dieter Lord eigentlich nur, wenn er einem anderen Lebewesen Qualen und Schmerzen zufügen konnte. Er fing Fliegen, riß ihnen die Flügel aus und freute sich wie ein kleines Kind, wenn die armen Insekten dann vor Schmerzen wie irr herumkrabbelten. Den Collie, an dem er früher so sehr gehangen hatte, brachte Dieter mit einem Küchenmesser um.
Er erstach ihn nicht gleich, sondern er verletzte das Tier so schwer, daß es unter Qualen eingegangen wäre, wenn Frederik Lord seinem Leiden nicht mit einem Pistolenschuß ein Ende gesetzt hätte. Dieter lockte auch umherstreunende Katzen mit Fleisch oder Milch an und erwürgte sie oder ertränkte sie im Swimmingpool. Er erlangte eine böse Meisterschaft in der Beschaffung von Opfern für seine sadistischen Triebe. Frederik Lord sah es, und es brach ihm fast das Herz.
Es war Hochsommer geworden. Draußen brütete die Hitze. In der Villa Lord lebten Frederik Lord, sein schwachsinniger Sohn und der Pfleger Meier. Jeden Tag kam eine Frau aus dem Dorf, die gegen Bezahlung für die drei kochte, die Kleider instand hielt, die Wäsche zur Wäscherei brachte und das Haus versorgte.
Der Pfleger mußte die Frau bewachen und vor Dieter beschützen, da dessen Tobsuchtsanfälle praktisch zu jeder Zeit beginnen konnten und die Frau seinen Kräften nichts entgegenzusetzen hatte.
Dreimal in der Woche kamen zwei Frauen zum Putzen und um gröbere Arbeiten zu verrichten.
Es waren Frauen, deren Männer in Lords Fabrik arbeiteten, und die sich zusätzliches Geld verdienen wollten.
Sie alle fürchteten den Schwachsinnigen, gingen ihm aus dem Weg und weigerten sich, mit ihm allein in einem Zimmer oder auch nur im selben Stockwerk zu sein.
Karl Meier riet Frederik Lord immer wieder, den Jungen in eine Anstalt oder ein geschlossenes Heim zu geben, aber der Fabrikant weigerte sich.
Der Fabrikant hatte sich erschreckend verändert. Der fleißige, strebsame Mann, der früher in der Arbeit für sein Unternehmen aufgegangen war, kümmerte sich kaum noch um etwas. Die Hauptlast der Arbeit lag bei Otmar Röder, dem
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