0762 - Vollstreckerin der Ewigen
manchmal, dass Bilder aus der Vergangenheit zu ihr kamen. Sie sah sich als kleines Kind in der völlig kahlen Eingangshalle der Schule des Ultiven Weges stehen. Eine Erinnerung daran, wer sie hier abgeliefert hatte, besaß sie nicht, Das alles lag hinter einem dichten Nebel, den sie nie anzurühren versucht hatte.
Ein Mann kam auf sie zu, blieb direkt vor ihr stehen. Damals war er Alwa riesig groß erschienen, und sein kahler Kopf hatte sie an einen der drei Monde erinnert, die nachts am Himmel ihrer Heimatwelt standen. Seine Augen blickten gütig, seine Stimme klang warm und herzlich.
»Du bist Alwa Taraneh.« Er fragte nicht, sondern stellte es fest. »Dein Vater war ein großer Mann. Er ist tot, gefallen im Kampf. Er hat deine Mutter getötet und dich gehasst. Nie hat er den Wunsch geäußert, dass der Ultive Weg sich deiner annehmen soll, wenn er nicht mehr lebt.«
Worte, die ein sensibles Kind grauenhaft treffen mussten, doch Alwa nahm sie ohne Gefühlsregung hin.
»Dennoch habe ich beschlossen, dass du zum Weg kommen musst. Du bist verunstaltet, bist nichts wert. Doch du bist die Tochter eines großen Kriegers. Lerne den Weg, Alwa Taraneh.«
In der nächsten Sekunde traf sie seine Faust brutal ins Gesicht, brach ihr die Nase und schickte Alwa in eine tiefe Ohnmacht…
***
Alwa war in absoluter Finsternis erwacht.
Ihre Nase schmerzte entsetzlich, sie fror auf dem kalten Steinboden, auf den man sie nackt gelegt hatte. Sie lauschte, doch da war kein Geräusch. Sie wartete, denn irgendwer würde sicherlich zu ihr kommen. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah, doch sie wusste, dass sie im Augenblick nichts tun konnte.
Also wartete sie.
Sie hatte später nie erfahren, wie lange sie in diesem Verlies auf dem Boden gehockt hatte. Es waren sicher mehrere Tage gewesen - ohne Nahrung, ohne Flüssigkeit. Als man sie schließlich abholte, fand man sie mit geschlossenen Augen in ihrem Urin und Kot liegen, das Gesicht vom Schmerz der gebrochenen Nase zu einer Fratze entstellt. Doch sie weinte nicht. Keine einzige Träne lief über das kleine Gesicht.
Alwa wurde gebadet. Man gab ihr saubere Kleidung, schnitt ihre Haare kurz. Essen und Trinken fiel ihr schwer, denn die Nase behinderte sie dabei. Ein Mann mit undurchdringlicher Mine untersuchte sie, gab ihr Heilmittel, die den Schmerz linderten. Schließlich ließ man das Kind schlafen.
Und Alwa Taraneh schlief lange und tief.
Sie erschrak nicht, als das Erste, was sie nach dem Aufwachen sah, das Gesicht ihres Peinigers war.
Er saß an ihrem Bett und betrachtete das Kind nachdenklich. »Dein fehlendes Auge ist ein unüberwindbarer Makel auf unserer Welt. Wir werden daran etwas ändern müssen.«
Alwa fühlte sich ausgeruht und stark. »Willst du mich jetzt wieder schlagen?« Ihre Miene ließ keine Furcht erkennen. »Ich werde auch dann nicht weinen. Ich weine nie. Wer bist du?«
Der Mann war sichtlich beeindruckt von der unerschrockenen Art des Mädchens. Ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Ich werde dich wieder schlagen, ganz sicher sogar. Denn ich werde dich trainieren, werde dir alle Kampftechniken beibringen, die der Ultive Weg kennt und gutheißt. Ich werde dein Trainer und Lehrer sein, Alwa Taraneh.« Er stand auf, ging zur Tür. »In einer Stunde beginnt dein Training. Bereite dich darauf vor.«
Die Tür schloss sich hinter dem Mann. Alwa hatte keine Vorstellung von dem, was er Training genannt hatte.
Das änderte sich jedoch schnell.
***
Langsam erhöhte Alwa Taraneh ihre Atemfrequenz.
Der Weg aus der Meditation war schwerer als der Einstieg. Vor allem war er wesentlich gefährlicher, denn eine zu schnelle Rückkehr konnte unter Umständen lebensgefährliche Schockzustände hervorrufen.
Während ihrer Trainingsjahre war Alwa mehrfach nur knapp dem Tod entronnen, weil sie dieses Auftauchen zu hastig und unkonzentriert durchgeführt hatte. In einem Fall hatte ihr Meister sie in ihrer Meditationsphase angegriffen - und sie dadurch um ein Haar getötet. Sie hatte seine Attacke abwehren können, doch anschließend setzte ihr Herz aus. Nur das schnelle Eingreifen ihres Trainers hatte sie gerettet.
Das gesamte Training war ein ständiger Tanz zwischen Tod und Leben. Im Grunde bestand die ganze Lehre des Ultiven Weges aus dieser Gratwanderung, denn sie hatte nur das eine Ziel -aus ihren Anhängern perfekt funktionierende Krieger zu formen.
Es hatte einige Jahre gedauert, bis Alwa sich dessen bewusst wurde, doch dann konnte sie nichts
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