0763 - Strigen-Grauen
zugelegt, das bis an die Decke reichte.
Die große Tür schwappte auf. Helens Blick flog über die dort abgestellten Flaschen. Den Champagner sah sie gar nicht, auch nicht die edlen Fruchtsäfte. Ihr ging es ganz einfach um Wasser, schlichtes und normales Tafelwasser.
Es gehörte zu den Wassern, die nicht viel Kohlensäure enthielten. Helen öffnete eine Flasche und überlegte, ob sie ein Glas nehmen sollte, entschied sich aber anders und trank direkt aus der Flasche.
Wie ein kalter Strom rann die Flüssigkeit durch ihre Kehle und hinein in den Magen. Es war ein Gefühl, als liefen Kälteschauer über ihre Haut.
Erst als die Flasche halbleer war, stellte Helen sie weg. Dann ging sie mit schweren Schritten auf das Bett zu, wo ihr dünnes Nachthemd lag. Ein Kleid aus Seide mit schmalen Trägern. Wenn sie es trug, lag der Stoff so wunderbar weich um ihren Körper. Obwohl sie verschwitzt war und sich nach einer Dusche sehnte, streifte sie doch das Kleid über.
Kein warmer Schweiß, sondern kalter. Eben der Angstschweiß des Alptraums.
Helen Kern schüttelte sich. Sie freute sich darüber, sich endlich wieder gefangen zu haben, denn die Erinnerung des doch sehr real gewesenen Alptraums verschwand allmählich in der Ferne und verwandelte sich in ein leicht diffuses Gebilde.
Mit dem nackten Fuß trat sie auf einen Schalter. In ihrer Nähe erstrahlte ein Halbmond, der auf einem weißen Fuß stand und etwa aus halber Deckenhöhe seinen weichen Schein auf den dickflorigen, hellen Teppich fließen ließ, den Helen von einer Foto-Session aus Marokko mitgebracht hatte.
Sie strich über ihn so gern mit nackten Füßen hinweg. Auch jetzt, nach diesem verdammten Traum, als sie den Weg wieder zum Fenster einschlug. Sie wollte nicht wieder vor der geschlossenen Scheibe stehenbleiben und sich endlich einmal überwinden und das Fenster öffnen.
Nicht wenige Menschen hätten sie um die Wohnlage beneidet. Das Haus stand zwar nicht einsam, aber die drei zusammengehörigen Gebäude bildeten gewissermaßen den Mittelpunkt eines Parks und waren von alten Laubbäumen umgeben. Helens Wohnung erstreckte sich über zwei Etagen.
Von dem großen Balkon, er lag in der unteren Etage der Wohnung, hatte Helen einen herrlichen Ausblick über den Park. Nie hätte es Helen sich getraut, in ihrem Zustand den Balkon zu betreten, da wäre sie sich vorgekommen wie ein nackter Soldat inmitten von bewaffneten Feinden.
Sie blieb hier oben, umfaßte den Kunststoffgriff und hatte das Gefühl, er wäre mit Leim bestrichen.
Sie schüttelte sich. Wahrscheinlich lag es nur an ihrer so feuchten Handfläche, daß sie so dachte.
Sehr leicht schwang das Fenster auf, und der Schwall Nachtluft drang ihr sofort entgegen.
Kühl, aber doch warm. Sie hätte die Temperatur niemals schätzen können, dieses Wetter war ihr so fremd, es drückte auf die psychischen und physischen Zustände der Menschen, und vielen Herz-und Kreislaufkranken ging es schlecht.
Damit hatte Helen nichts zu tun. Bei ihr waren eben andere Dinge dominant, die Alpträume, zum Beispiel.
Eine laue Nacht, ein leichter Südwind, der wie mit warmen Händen ihre Haut streichelte. Er strich durch das Blätterwerk der Bäume wie der Atem eines Riesen, spielte mit dem noch festen Laub und ließ es geheimnisvoll rascheln.
Ihre Angst war zum Großteil verflogen, und so kümmerte sie sich um die natürlichen Geräusche.
Die Nacht war nicht ruhig. Nicht nur das geheimnisvolle Wispern der Blätter zählte sie dazu, sondern auch andere Geräusche, die in weiter Ferne lagen. Der Wind brachte sie mit.
Helen verfolgte die Gebirgslandschaft aus Wolken. Dabei hörte sie leise Stimmen, die im Nachbarhaus aufklangen. Dort saßen Menschen auf der Terrasse und feierten etwas. Was sie sagten, bekam sie nicht mit. Die Leute interessierten sie auch nicht, Helen hatte ihre eigenen Probleme. Geheimnisvolle und rätselhafte Laute umgaben sie. Waren es Tiere, die durch das Unterholz hetzten? Katzen, Mäuse, Eichhörnchen? Es gab sie alle hier, wie Helen wußte. Sie hatte sie auch schon gesehen, aber nicht in der Nacht. Manche Eichhörnchen waren so zahm gewesen, daß sie ihr aus der Hand gefressen hätten.
Sie empfand den Südwind wie den »Atem« aus einem Ofen. Er war Helen unangenehm, deshalb zuckte sie auch zurück und hörte noch in der Bewegung das Geräusch.
Flapp… flapp…
Helen Kern blieb stehen. Sie schaute nach vorn. Das Fenster stand offen, dahinter lag die Nacht wie ein schwarzes Riesentier.
Flapp…
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