0767 - Das Grauen von Milford Sound
würde.
***
Der Mann stand mit gesenktem Kopf vor den Blumen und wartete.
Er wusste nicht, wie lange er bereits dastand, aber er war geduldig. Dicke Regentropfen klatschten auf seine Stirn, rannen die Wangen entlang wie Tränen.
Der Himmel hatte sich verdüstert in den letzten Stunden. Eine Decke aus Sturmwolken und Finsternis hatte sich über die scharfkantigen Gipfel des Mitre Peak und Mount Pembroke gestülpt.
Den Blumen schien das Wetter nichts auszumachen. Wasser perlte von ihren Kelchen, die noch immer in allen Regenbogenfarben schimmerten. Das Leuchten, das sie umgab, schien von innen zu kommen; sie wirkten wie der letzte farbige Fleck in einer düsteren, von rauen Elementen geplagten Umgebung.
Der Mann erinnerte sich nicht mehr daran, wann er die Blumen zum ersten Mal erblickt hatte. Er erinnerte sich nicht einmal daran, wie er auf diesen Pfad gekommen war.
Diesen Pfad gab es gar nicht.
Oder doch?
Sein Gedächtnis schien ihm einen Streich zu spielen. Es hatte Lücken. Aber das kümmerte ihn nicht.
Das Rascheln der Stängel ließ ihn aufschrecken. Er konnte sie nicht sehen, aber er spürte ihre Gegenwart.
Er wusste nicht, was sie von ihm wollten, welche neuen Instruktionen sie für ihn bereithielten, aber er fürchtete ihren Zorn, denn etwas war schiefgegangen. Zwei Menschen waren entkommen. Das war nicht geplant gewesen.
Niemand ist zornig. Du hast unsere Erwartungen erfüllt.
Die Stimme vermengte sich mit dem Heulen des Windes, dem Hämmern der Regentropfen auf dem nackten Fels.
Er sah demutsvoll zu Boden, starrte auf seine Fußspitzen und seine vom Regenwasser durchnässten Hosenbeine.
Er fragte sich, ob er die Stimme wirklich gehört hatte, oder ob sie nur in seinem Kopf aufgeklungen war. Andererseits spürte er ihre Gegenwart, und er hatte gesehen, wie sich die Blumen unter ihrer Berührung bewegten.
Du wirst uns auch weiterhin zu Diensten sein.
»Ich habe die Erwartungen erfüllt«, murmelte er vor sich hin, als müsse er sich selbst erst von der Wahrheit der Worte überzeugen. Langsam verstand er. Und nickte. »Ich werde euch auch weiterhin zu Diensten sein.«
Jemand wird kommen und Nachforschungen anstellen. Du wirst ihn hierher führen. Wir wollen ihn in unsere Gewalt bringen.
Die Sätze tanzten stakkatoartig durch sein Gehirn, machten ihm Kopfschmerzen. Weitere Fremde sollten kommen? Aber weshalb? Sie hatten ihn doch instruiert, alle Spuren zu verwischen. Sie selbst hatten dafür gesorgt, dass die Erzählungen der Überlebenden als Hirngespinste abgetan wurden. Sie hatten den Track - gab es ihn überhaupt, oder bildete er es sich vielleicht nur ein, auf festem Stein zu stehen und die regenbogenfarbenen Blumen zu erblicken? - vor den Augen der Polizei verborgen. Sie hatten das Opfer ausgewählt, das so schnell niemand vermissen würde.
Jemand wird kommen, wiederholte die Stimme. Du wirst ihn zu uns führen.
Er nickte. Wenn es ihr Wille war, so sollte es geschehen.
»Wie werde ich ihn erkennen?«
Er hatte die Frage leise gestellt, sodass sie fast vom Wind verschluckt wurde. Doch die Antwort kam im Bruchteil eines Augenblicks.
Wir werden ihn dir zeigen.
Das reichte.
Die Stille verriet ihm, dass die Zwiesprache beendet war. Er hob den Kopf. Sein Blick ging ins Leere, durch die Blumen hindurch, deren Stängel sich im Wind bogen.
Waren die Fremden fort? Er konnte sie nicht mehr spüren.
Er fühlte sich schuldig, als er einen Schritt auf die Blumen zuging. Zielsicher trat er zwischen den Wurzeln hindurch, die gleichsam vor seinen Füßen zurückzuweichen schienen. Er durfte ihnen nicht zu nahe kommen. Er wusste, was geschehen konnte.
Er hatte einen der Fremden berührt, vor einigen Tagen, als man ihm den ersten Auftrag erteilte. Er hatte der Versuchung nicht widerstehen können. Außerdem war er misstrauisch gewesen - und widerspenstig.
Sie hatten ihm den Widerstand ausgetrieben. Sie waren mächtig, und sie hatten ihm diese Macht vor Augen geführt. Er hatte begriffen, dass er einen Fehler begangen hatte.
Einen Fehler, der tödlich hätte enden können, wenn sie ihn anschließend nicht gerettet hätten.
Er war ihnen dankbar. Er war ihnen etwas schuldig.
Zögernd streckte er die Hand nach den Blumen aus… und ließ sie wieder sinken.
James Nash tastete scheinbar gedankenverloren nach der Kette um seinen Hals und ging langsam, wie im Traum wandelnd, zurück zum Sound, um seinen Auftrag zu erfüllen.
***
Professor Zamorra genoss die Fahrt durch die unberührte, hügelige
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