0767 - Zeit der Wachsleichen
dessen Flügel, Bemalungen und Figuren in der herrschenden Düsternis verschwammen, aber auf keinen Fall bedrohlich wirkten.
Er kniete auf der untersten Altarstufe, faltete die Hände und senkte den Kopf.
Sekunden später war er bereits in einem tiefen Dankgebet versunken…
***
Eartha Davies hatte ihren Sohn Mario auf die Terrasse gezogen und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. »Jetzt ist die Zeit gekommen, um zu verschwinden«, sagte sie.
»Wirklich?«
»Ja, komm!«
Mario vertraute seiner Mutter voll und ganz. Sie war anders als sein Vater, denn bei ihr spürte er genau, daß er ein Teil von ihr war. Sie würde ihn niemals belügen oder reinlegen. Alles, was sie tat, geschah auch in seinem Sinne.
Eartha wartete auf ihn an der Brüstung. Der Junge fragte nicht mehr nach seinem Vater. Er schaute auf die Hand der Frau, die über die Brüstung hinwegdeutete. »Du wirst klettern müssen. Kannst du das?«
»Ja.«
»Dann beeil dich!«
Er war auf alles vorbereitet. Die beiden Arme der Strickleiter hingen an der Brüstung so fest, daß sie auch nicht reißen würden, wenn die Leiter belastet wurde.
Mario war geschickt. Seine Mutter sah ihn in der Tiefe verschwinden, dann schaute sie zurück in die Suite, in die sie nicht mehr zurückkehren würde, wenn es nach ihr ging.
Sie konnten ruhig alles zurücklassen. Für sie und ihren Sohn würde ein neues Leben beginnen. Da brauchten sie auch keine Angst mehr vor irgendwelchen Mafiakillern zu haben, denn schon sehr bald würden sie unter einem besonderen Schutz stehen.
Ihren Mann hatte sie abgehakt. Er hatte das besondere Verhältnis zwischen Mutter und Sohn sowieso nie verstanden und hatte auch nicht begreifen wollen.
Jetzt war es vorbei. Sie wußte, daß man ihn erschossen hatte. Sie hatte es durch den Türspalt gesehen, und sie hatte aus bestimmten Gründen nicht eingegriffen.
»Wo bist du?« zischelte sie in die Tiefe.
Zuerst hörte sie ein Rascheln, dann erst die vertraute Stimme ihres Sohnes. »Fast unten.«
»Das ist gut. Ich komme jetzt ebenfalls.«
Auch Eartha schwang sich gewandt über die Brüstung hinweg und erreichte die erste Sprosse ohne Schwierigkeiten. Auch wenn die Leiter schwankte, so machte ihr das nichts aus.
Wie eine geübte Kletterin fand sie den Weg nach unten, und schon bald erschienen neben ihr die ersten Spitzen der Bäume. Die Zweige, die nach ihr greifen wollten, die an ihrer Gestalt entlangschleiften und ihr Gesicht berührten wie fettige Finger.
Mario stand bereits unten. Er hielt die Leiter fest. Seine Gestalt war nur undeutlich auszumachen.
Glücklicherweise stand die nächste Leuchte ziemlich weit entfernt, so konnten sie auch nicht so leicht entdeckt werden.
Die letzten drei Stufen ließ sich Eartha Davies fallen. Neben Mario landete sie auf einem weichen, mit Gras und Humus bedeckten Boden. Sie kam wieder hoch und lächelte.
Mario schaute sie an. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit wie poliertes Metall. »Ist alles gut?« fragte er.
»Ja.« Sie nickte.
»Können wir gehen?«
Eartha hielt Mario an der Schulter fest. »Gleich, mein Junge. Ich muß dir noch etwas sagen: Dein Vater ist tot!«
Mario schwieg.
»Du mußt dich damit abfinden.«
»Das habe ich mich schon.«
Sie lächelte breit. »Sehr schön, mein Junge.«
»Waren es die Killer?«
»Ja, aber keine Killer männlichen Geschlechts. Sie haben uns Frauen geschickt. Zumindest eine habe ich gesehen. Die ist aber zusammen mit ihrer Freundin gekommen. Auf der Terrasse saßen sie nur zwei Schritte von uns entfernt mit diesem Mann.«
»Sinclair?«
»Richtig.«
»Ich hasse ihn!«
»Das sollst du auch.« Sie legte einen Arm um den Jungen. »Ich verspreche dir, daß er uns nicht mehr in die Quere kommen wird, Kleiner. Darauf kannst du dich verlassen. Ab jetzt zählen nur deine und meine Pläne. Haben wir uns verstanden?«
»Sicher, Mum.«
Mario Davies war froh, daß alles so gekommen war. Für ihn hatte es sich bezahlt gemacht, seiner Mutter zu vertrauen, außerdem war Blut immer dicker als Wein.
Eartha faßte nach der Hand ihres Sohnes. Sie zog ihn weiter in eine gute Deckung. Im Hotel würde noch einiges passieren, damit wollten sie nichts zu tun haben. Sie flüsterte ihm zu. »Los, so schnell wie möglich zum Parkplatz!« Entsprechend angezogen war sie in ihrer langen Hose, dem T-Shirt und der dunklen Jacke. In der Dunkelheit konnte sie kaum gesehen werden. Auch Mario war dunkel gekleidet.
Sie hatten sich einen Ford Kombi geliehen. Den Schlüssel
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