0767 - Zeit der Wachsleichen
aber sie sollen die Gräber von allein verlassen. Sie werden es schaffen, das weiß ich. Wir wollen hier keine Zeit vergeuden. Einer ist schon draußen. Ich will ihn sehen und ihn umarmen.«
»Bitte.«
Mario faßte seine Mutter an. Er war jetzt in seinem Element. »Ich habe schon Kontakt zu ihm aufgenommen. Jetzt weiß ich sogar, wo er sich aufhält, Mum.«
»Wirklich?«
»Du kannst dich auf mich verlassen.« Er hob den linken Arm an und zeigte den Weg zurück. Dann aber schwenkte er ihn leicht nach rechts. »Dort befindet er sich!«
Eartha Davies erschrak. »Aber da ist die Kirche.«
»Sehr richtig.«
»Und du meinst, daß er hineingegangen ist?«
Mario leckte über seine Lippen. Die Frau bekam keine direkte Antwort. »Etwas hat ihn gelockt. Es… es geht ihm auch nicht gut, glaube ich. Er verspürt Schmerzen. Wir… wir müssen vorsichtig sein und werden noch abwarten müssen. Nur nichts übereilen. Die beiden anderen müssen ebenfalls freikommen. Dann sind wir zu fünft.«
»Und unschlagbar.«
»Du sagst es, Mum, du sagst es.«
Danach zogen sich Mutter und Sohn zurück. Als würden sie schon immer dazugehören, verschmolzen sie mit der Dunkelheit über dem Friedhof. Und nur der Wind war Zeuge ihres unheimlichen Auftritts gewesen…
***
Es gefiel mir überhaupt nicht, mit einer Mörderin an der Seite zu arbeiten, aber es gibt manchmal Situationen, aus denen man nicht so einfach herauskommt.
Wir fuhren, sie schwieg. Ich wußte nicht, welche Gedanken sie durchfluteten, doch es waren sicherlich andere als meine, denn ich dachte über die Frau und ihren Job nach und fragte mich, wie viele Menschen sie wohl auf dem Gewissen hatte. Seit zwei Jahren hatte sie mit einer Partnerin zusammengearbeitet. Beide Frauen waren zu einem Killerteam zusammengewachsen.
Ich wäre damit nicht zurechtgekommen. Jeder Mensch hat doch ein Gewissen, und ich fragte mich, wie Sally Vincaro damit fertig geworden war, wenn sie die Morde begangen hatte. Diese Bilder des Schreckens hätten sie doch bis in die Träume hinein verfolgen und ihr den Schlaf rauben müssen. So jedenfalls wäre es mir ergangen. Und ihr?
Hatte sie überhaupt ein Gewissen, oder war sie längst so abgestumpft, daß ihr ein Mord mehr oder weniger nichts mehr ausmachte?
Die Gegend hatte sich meiner Stimmung angepaßt. Die kurvige Straße führte uns durch einen düsteren Tunnel, denn an beiden Rändern wuchs der Wald sehr dicht. Meine Blicke folgten dem bleichen Licht der Scheinwerfer, die über die glatte Oberfläche der Straße hinwegglitten und sich besonders in den Kurven an den Straßenrändern gespenstisch in Büschen und Bäumen verfingen.
Ich atmete tief durch.
Sally hörte es. Leise lachte sie auf. Dabei zündete sie sich eine Zigarette an. »Jetzt sind Sie verblüfft, ausgepokert, und Sie werden wahrscheinlich über mich nachdenken.«
»Stimmt.«
»Sie werden mich auch verachten.«
»Möglicherweise.«
Sally runzelte die Stirn und ließ Rauch durch ihre Nasenlöcher fließen. »Es gibt eben Unterschiede bei den Menschen. Man hat meine Eltern getötet, als ich noch ein Kind war. Das hat mich irgendwie geprägt.«
»Wer tötete sie?«
»Kein Killer in dem Sinne. Es war der Staat. Sie kamen bei einem Manöver um. Ein Panzer überrollte den Buick meiner Eltern. Können Sie sich vorstellen, wie das Fahrzeug und meine Eltern aussahen? Können Sie das?«
»Kaum.«
»Aber ich habe es sehen müssen, denn ich stand nicht weit davon entfernt. Meine Eltern hatten mich und meine beiden Brüder abholen wollen. Wir sind Zeugen gewesen. Ich spreche nicht mehr darüber, auch nicht mit meinen Brüdern, den Zwillingen. Sie taten alles gemeinsam. Sie gingen sogar gemeinsam in den Tod. Ich blieb zurück, die kleine Sally, die aber an ihrem Haß fast erstickte. Schon als Teenager habe ich mir vorgenommen, es der Gesellschaft heimzuzahlen, und dabei ist es geblieben. Die Leute, die ich mir aufs Korn nehme, gehören zu dieser Scheißgesellschaft, und Audrey hat ähnlich gedacht.«
»Sorry, aber das kann ich Ihnen als Entschuldigung nicht abnehmen, Sally.«
Sie zerdrückte den Zigarettenstummel im Ascher. »Wenn man Sie so reden hört, ich könnte mir vorstellen, daß Sie sich gut zu einem Pfarrer eignen.«
»Wohl kaum. Ich versuche nur, mir meine Menschlichkeit zu bewahren.«
Sally lachte mich aus. Dann schaute sie aus dem Fenster. »Was ist schon Menschlichkeit in dieser Welt. Eine Scheiße ist das, mehr nicht! Man muß Raubtier sein, um überleben zu
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