0767 - Zeit der Wachsleichen
auf. »Es ist besser, wenn wir jetzt an die Gräber gehen, Mum.«
»Wie du willst.«
Mario zeigte sich nach diesem Gespräch verändert. Er setzte seinen Weg sehr zielstrebig fort und war nicht mehr nur in seinen tiefen Gedanken versunken. Im Gegensatz zu seiner Mutter kannte er sich durch die vorherigen Besuche auf dem Gelände aus, und sie blieben auch auf der oberen Terrasse, gingen allerdings dorthin, wo der Friedhof eine seitliche Grenze hatte und ein Wall aus Büschen Schatten spendete. Es war ein kleines Gebiet das etwas abseits lag, und darüber äußerte sich der Junge auch.
»Die Menschen hier haben sie verscharrt. Sie wollten sie nicht haben. Sie haben sie behandelt wie alte Tierkadaver, aber das werden wir ihnen heimzahlen.« Er fühlte sich wie ein Rächer und beschleunigte seine Schritte noch.
Eartha hatte Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Die Gestalt ihres Sohnes wirkte gedrungen, zudem ging er leicht vorgebeugt. Nach jedem zweiten Schritt zischte der Atem aus seinem Mund. Er war wütend, er würde keine Rücksicht mehr kennen, und dieser Augenblick gehörte zu denen, wo selbst Eartha vor ihrem Sohn Furcht bekam. Sie wußte, wie er hassen und wie gnadenlos er sein konnte, wenn sich ihm Feinde in den Weg stellten. Den Mann vom See hatte er nicht vergessen, auch wenn er nicht über ihn sprechen wollte.
Beide ließen die letzten normalen Gräber hinter sich. Dann blieb Mario stehen. Er wartete, bis seine Mutter aufgeschlossen hatte, dann hob er einen Arm. Der ausgestreckte Zeigefinger wies über einen flachen Hang hinweg und deutete auf einen schief aus der Erde wachsenden Grabstein, der das entsprechende Grab markierte.
»Hier ist es«, flüsterte er. Mario war jetzt selig. Er strahlte, er lächelte und ging vor.
Eartha blieb bei ihm. Ihr Sohn drehte sich um. Er konnte es kaum erwarten, seiner Mutter die Stelle zu zeigen. Er stand jetzt direkt neben dem Grab. Seine ausgestreckten Finger waren in die Tiefe gerichtet. Die Spitzen zitterten leicht. »Schau es dir an, Mum! Schau es dir genau an. Sieh sehr gut hin!«
Sie tat es.
Er brauchte nichts mehr zu sagen und zu erklären. Auch Eartha Davies war die Veränderung auf der Graboberfläche nicht entgangen. Sie war nicht mehr gepflegt, sie war nicht glatt, sondern durch einen immensen Druck von innen her aufgewühlt worden. Alles wies darauf hin, daß der Tote erwacht war und das Grab verlassen hatte.
Hier war etwas Unglaubliches geschehen. Mit Logik nicht zu erklären, aber die beiden wußten Bescheid. Die uralten Voodoo-Kräfte, die sich von der Mutter auf den Sohn übertragen hatten, waren an dieser Grabstätte wirksam geworden und hatten das Grauen auf zwei Beinen ausgespieen.
»Das sieht gut aus«, flüsterte die Frau.
Ihr Sohn geriet in einen wahren Begeisterungstaumel. »Ja, Mum, ja. Du hast recht. Es sieht gut aus, und so habe ich es mir auch vorgestellt. Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn wir etwas anderes vorgefunden hätten.« Seine Augen glänzten. »Der Tote hat meine Liebe gespürt. Er wird bestimmt wissen, daß ich hier bin, und ich wette mit dir, daß er uns bald entgegenkommen wird. Wir brauchen ihn nicht einmal zu suchen.«
»Was ist mit den beiden anderen Gräbern?«
»Sie schauen wir uns jetzt an«, antwortete der Junge.
Sie brauchten nicht weit zu gehen. Die zwei Gräber lagen in unmittelbarer Nähe des ersten, drei kleine Schritte brachten sie direkt an deren Ränder.
Da diese Gräber etwas mehr im dunklen Schatten lagen, fiel ihnen die Veränderung nicht sofort auf.
Sie entdeckten aber die Bewegungen auf den dunklen Flächen.
»Da ist etwas!« Eartha beugte sich tiefer, zuckte dann zurück, als sie die hellen »Würmer« sah, die aus der Erde schauten. Es waren jedoch keine Würmer, es waren die Finger einer Hand, und sie hörte ihren Sohn leise lachen.
»Es hat geklappt, Mum. Es hat wunderbar geklappt. Sie… sie sind dabei, aus dem Boden zu kriechen.«
»Schön. Willst du ihnen helfen?«
»Ich werde sie zumindest berühren.« Der Junge bückte sich und streckte seine Rechte aus.
Die andere Hand war so weit aus der Erde gedrungen, daß er sie normal umfassen konnte. Er zögerte auch nicht, sondern legte seine verschwitzte Hand an die kalte Totenklaue des lebenden Ungeheuers, dessen übriger Körper noch im Grab steckte.
»Zieh ihn hoch!«
Mario nickte. Es versuchte es. Die Hand zuckte, als wollte sie ihn kitzeln, doch er ließ sie los.
»Schaffst du es nicht?«
Mario richtete sich auf. »Doch, schon,
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