077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
Cadillac fährt weg und läßt sie allein am Straßenrand zurück. Jeannine geht die Allee weiter, bis sie zu einer Bank kommt, auf die sie sich fallen läßt. Sie atmet schwer, und ihre Stirn ist schweißbedeckt. Ihre Gedanken bilden keine fortlaufende Kette mehr, sondern wirbeln ungeordnet durcheinander.
Jetzt weiß sie alles. Während sie in Morestiers Gesellschaft war, hatte sie noch Zweifel, aber jetzt ist ihr alles klar. Sie steht vor dem Abgrund; noch hat sie nicht den Mut zu springen.
Ihre Nägel krallen sich in das morsche Holz der Bank, und ein unkontrolliertes Stöhnen dringt aus ihrer trockenen Kehle.
Ein Uhr morgens! Entmutigt fährt Morestier nach Hause. Den ganzen Abend lang hat er zusammen mit Fauchard und seinen Männern die Straßen zwischen Colombes, Bois-Colombes und La Garenne-Colombes abgesucht. Keine Spur von Jeannine, von Leggatt, von Juliette.
Einige Cadillacs wurden angehalten und kontrolliert, aber ohne Erfolg.
„Vermutlich ist Leggatt mit Juliette im Cadillac durchgekommen, bevor unsere Kontrollen begannen“, meint Fauchard. „Und Jeannine hat ungesehen die Kontrollposten passiert.“
Morestier läßt das für Leggatt und Juliette gelten, sie sind mindestens eine Stunde, bevor die Posten aufgestellt wurden, in die Gegend gekommen. Aber Jeannine? Fauchard hat die Nachforschungen nach ihr noch aus dem Restaurant telefonisch angeordnet.
Aber der Kommissar bleibt zuversichtlich, trotz Jeannines Verschwinden.
Eine Gestalt löst sich aus dem Schatten und kommt an die rechte Wagenseite.
„Dr. Morestier…“
Er läßt das Fenster herab. Es ist Leggatt.
„Sie!“
„Ich habe auf Sie gewartet.“
Es ist der Engländer, so wie ihn Morestier im Restaurant kennengelernt hat: bescheiden, schüchtern … vielleicht macht er einen weniger unentschlossenen Eindruck als sonst. Ist er gefährlich?
„Was wollen Sie?“ fragt Morestier.
„Ich weiß, wo Jeannine ist.“
„Wo?“
„Ich weiß, wo…“
„Und Juliette?“
„Sie bewacht das Haus, in dem Jeannine sich befindet.“
Morestiers Gedanken gehen im Kreis. Leggatt kann nicht wissen, wo die Mädchen sind – außer er ist schuldig. Dann versucht er also, ihn, Morestier, in eine Falle zu locken. Wenn er aber schuldig ist, weshalb kommt er dann überhaupt? Weshalb begibt er sich dann in die Höhle des Löwen? Hat er irgendwelche Trümpfe in der Hand?
Andererseits ist es seine einzige Chance, Jeannine wiederzufinden. Kann er sie ihrem ungewissen Schicksal überlassen, nur weil er Leggatts Absichten mißtraut?
Während er überlegt, kommt der Portier und öffnet das große Tor, das in den Park führt, der die Klinik umgibt.
„Einen Augenblick noch!“ ruft der Arzt.
Er muß einen Entschluß fassen.
Er wendet sich an Leggatt. „Können Sie mich hinbringen?“
„Ja.“
„Wir holen aber erst Fauchard.“
„Wenn Sie es so haben wollen …“ Der Engländer zögert. „Ich verstehe, daß Sie kein Vertrauen zu mir haben, aber ich möchte Jeannine nicht unnötigen Gefahren aussetzen. Juliette kann unvermutet eintreten und sie finden.“
„Was schlagen Sie also vor?“
Leggatts Einwände sind zu vernünftig, um nicht ernsthaft in Betracht gezogen zu werden.
Morestier öffnet den Wagenschlag.
Leggatt schüttelt den Kopf. „Wir gehen zu Fuß hin.“
„Weshalb?“
„Das Haus steht mitten in einem kleinen Wald, Juliette könnte den Motorenlärm hören und ihre Gefangene umbringen.“
Jeannine! Morestier zögert dennoch.
„Es ist ganz in der Nähe“, setzt Leggatt hinzu.
„In welcher Richtung?“
„Etwa fünfhundert Meter zurück.“
„Neben der Straße?“
„Nein. Wir gehen über eine Wiese, die direkt bis zum Haus führt.“
Morestier steigt aus. „Der Portier wird Fauchard anrufen“, sagt er.
„Dann kann er etwa zur gleichen Zeit dort sein wie wir“, meint Leggatt.
Morestier winkt dem Portier. „Fahren Sie den Wagen in die Garage, und dann rufen Sie bitte den Kommissar Fauchard an. Er befindet sich im Kommissariat hier in Colombes …“
Der Arzt wendet sich an Leggatt. „Monsieur Leggatt, erklären Sie dem Mann genau, wo sich das Haus befindet.“
Während Leggatt dem Portier Anweisungen gibt, greift Morestier in die Seitentasche seines Wagens und zieht einen großkalibrigen Revolver hervor. Er lädt ihn vor den Augen des Engländers, der ungerührt zusieht.
„Gehen wir.“
Der Regen hat aufgehört, aber der Wind bläst eisig über die Köpfe der beiden Männer. Ich hätte in jedem
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