077 - Zu Gast bei Mr. Vampir
frei herum!“
„Ich muß Leggatt oder den anderen finden …“
„Den anderen?“
„In Wirklichkeit ist Leggatt nicht Leggatt.’’
Er starrt sie entgeistert an. Wäre sie am Rande eines Nervenzusammenbruches oder einfach hysterisch, dann könnte er das alles verstehen!
Aber ihre Passivität, die kühle Ruhe, mit der sie spricht, bringen ihn aus der Fassung.
„Sie bleiben bei mir“, sagt er mit eiserner Selbstbeherrschung. „Wir gehen zu Fauchard.“
„Nein.“
„Er erwartet uns im Restaurant. Vielleicht haben seine Nachforschungen bereits Erfolg gehabt.“
„Sie wissen doch, daß das unmöglich ist.“
„Ich ersuche Sie, mich zu begleiten, Jeannine. Ich muß darauf bestehen, und es ist der Arzt, der zu Ihnen spricht. Wenn wir dem Kommissar alles erzählt haben und Sie dann immer noch Lust haben wegzugehen, dann werde ich Ihnen nichts mehr in den Weg legen.“
„Er ist nur ein Polizist.“
„Und?“
Was soll sie ihm nur sagen, diesem Idioten?
Sie hebt die Schultern. „Wozu soll das gut sein?“
„Wenn Sie sich weigern mit mir zu gehen, lasse ich einen Polizisten rufen.“ Er hat seinen Entschluß gefaßt, und seine Stimme hat einen autoritären Tonfall, den des Mediziners, der täglich seine Entscheidungen zu treffen hat – schwerwiegende zumeist. „Und ich werde dem Polizisten sagen, daß Sie eine gefährliche Irre sind. Er wird Sie festhalten, bis Fauchard kommt.“
Eine Irre. Eine Verrückte. Immer haben sie diese Worte im Mund. Sie versteht plötzlich, daß man sie zutiefst hassen kann, und sie verachtet sie jetzt bereits aus ganzem Herzen.
„Das würden Sie nicht tun.“
„Doch.“
Die Drohung zwingt ihr ein Lächeln auf die Lippen. Als ob irgend etwas imstande sei, sie gegen ihren Willen festzuhalten!
Sie macht eine kleine, ungeduldige Handbewegung. „Na gut, gehen wir.“
Sie verlassen das Kaffeehaus. Morestier nimmt ihren Arm und hält ihn fest.
„Sie werden das alles noch sehr bereuen“, sagt sie.
„Ich? Jeannine, seien Sie doch vernünftig. Sie halten sich doch nicht wirklich für Lilith, oder?“
Jeannine starrt ihn erst erschreckt an, dann füllen ihre Augen sich mit Tränen.
„Wissen Sie, wer Lilith war?“ fährt Morestier fort. Seine Stimme ist etwas ironisch. „Die Dienerin eines Vampirs, der die Menschen verhext! Das Geschöpf einer kranken Phantasie!“
Lilith! Jeannine strengt ihre Gedanken an; sie muß vorsichtig sein, denn nun wandert sie einen scharfen Grat entlang. Wenn das Gespräch in dieser Richtung weitergeht, könnte es sein, daß sie in den Abgrund stürzt.
„Nein“, flüstert sie nach einer kleinen Weile. „Lilith … nein, das ist entsetzlich…“
Nun geht sie wortlos neben Morestier her.
Fauchard steht zusammen mit zwei Polizisten und dem Wirt an der Theke und macht einen nervösen Eindruck. Offenbar hat er sie bereits ungeduldig erwartet.
„Endlich!“ ruft er. „Ich habe einen meiner Männer bereits nach Ihnen gesandt. Vermutlich hat er Sie auf der Straße übersehen.“
„Neuigkeiten?“
„Jeannines Kollegin, Juliette, ist verschwunden.“
„Verschwunden?“
„Ganz plötzlich hat sie alles liegen- und stehenlassen, kam durch die Küchentür und ging geradewegs aus dem Lokal. Soweit ich es bisher eruieren konnte, geschah das nur einige Augenblicke nachdem Leggatt dem Mann, der ihm folgte, entwischt ist.“
„Glauben Sie, daß Leggatt und Juliette …?“
„Die Köchin sagt, daß Juliette einen Stoß Teller, den sie gerade in den Händen hielt, fallen ließ, um wie eine Irre aus der Küche zu eilen.
Nachdem Sie beide das Restaurant verlassen hatten, setzte Juliette sich an Leggatts Tisch, und die beiden hatten ein langes Gespräch.“
„Ihre Meinung?“
„Er hypnotisiert die Mädchen.“
Trotzdem würde das nicht alle Ungereimtheiten erklären.
Der Arzt wendet sich an Jeannine und bemerkt, daß sie nicht mehr hinter ihm steht, wo er sie vermutet hat.
Er blickt den Wirt an. „Wo ist sie?“
„Ich glaube, sie ist hinausgegangen.“
„Hinausgegangen? Und Sie haben sie gehen lassen?“ schreit Morestier.
„Ich wußte doch nicht…“ sagt der Wirt kleinlaut.
Der Arzt läuft zur Tür, aber niemand ist auf der Straße. Als er wieder an die Theke tritt, kann er seine Angst um Jeannine nur schwer verbergen. Er erzählt Fauchard rasch von dem letzten Gespräch, das er mit Jeannine hatte – von ihrer Absicht, Leggatt zu suchen.
Der Kommissar flucht.
„Wir müssen sofort nach Colombes.
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