0770 - Die andere Seite der Hölle
ging oft in die Kirche, allein. Das heißt, Kirche ist der falsche Ausdruck. Sie hat sich für die kleine Kapelle am Ortsende entschieden. Die Kapelle wurde praktisch zu ihrem zweiten Zuhause.«
Suko nickte mir zu. Auch ich wußte Bescheid. Die Kapelle hatte eine wichtige Rolle gespielt, wenn nicht sogar die Hauptrolle neben dem Mädchen. Über diese Kapelle hatten ja auch Jane Collins und der Reporter berichtet. Seine Leiche mit dem geschwärzten Gesicht war von unseren Kollegen abgeholt und zur Untersuchung gebracht worden. Auf das Ergebnis war ich gespannt.
»Die Kapelle kennen wir nicht«, sagte ich. »Wird dort keine Messe mehr abgehalten?«
Ferguson schüttelte den Kopf. »Schon lange nicht mehr, doch die Kapelle ist ein Hort für diejenigen, die in Ruhe beten wollen. Und dazu gehört eben Elenor Hopkins.«
»Warum nur sie?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Er hatte Ahnung, das sahen wir ihm an. Er wollte nur nicht mit der Sprache herausrücken.
»Gibt es ein Geheimnis, das sich um die Kapelle rankt?« fragte der Inspektor.
Der Feuerwehrchef sah aus wie jemand, der bei einer Lüge ertappt worden war. Er bekam rote Wangen, ansonsten war sein Gesicht nämlich ziemlich bleich. »Nun ja, wenn Sie schon danach fragen, kann ich es Ihnen auch sagen. Ein direktes Geheimnis existiert nicht. Das einmal vorweg. Aber man redet eben.«
»Was denn?«
»Daß diese kleine Kirche nicht so ist wie andere. Sie ist eine Sünde der Vergangenheit.«
Ich lächelte. »Jetzt wird es interessant. Das müssen Sie uns näher erklären.«
Er ging einen Schritt zurück. »Warum interessiert Sie das eigentlich alles? Sind Sie wegen des Mädchens gekommen?«
»Das ist durchaus möglich«, sagte ich.
Ferguson hatte eine Bemerkung auf der Zunge liegen. Er schluckte sie jedoch herunter. »Ich jedenfalls kann nicht viel über Elenor Hopkins sagen.«
»Aber über die Kapelle«, erinnerte ich ihn. »Da war doch was in der Vergangenheit.«
»Mehr eine Sage.«
»Dafür haben wir uns schon immer interessiert«, sagte Suko.
»Gut, gut, wenn Sie es unbedingt wissen wollen.« Er räusperte sich und suchte nach dem richtigen Einstieg. Seine Leute räumten noch immer auf.
Auch der Besitzer des Hotels war erschienen und veranstaltete eine Jammerorgie. Er sprach von einem Schaden, den ihm hoffentlich die Versicherung ersetzte. An die Opfer dachte er nicht. Mit keinem Wort redete er davon.
»Die Kapelle ist einer Nonne mit Namen Franziska geweiht worden. Die Nonne hat mal hier gelebt. Sie ist in die Mühlen der Glaubenskriege hineingeraten. Es gab die Auseinandersetzung zwischen den Reformierten und den Katholiken. Die Nonne sollte konvertieren, das hat sie nicht getan. Die Glaubenskriege wurden ja nicht nur mit Worten geführt, auch mit Taten. Es gab Kämpfe, es gab Tote. Auch die Nonne hat darunter gelitten.«
»Starb sie?«
»Ja, Mr. Sinclair. Sie starb. Man brachte sie sogar um. Man hat sie hinterher wegen Ketzerei angeklagt und verbrannt. Ob zu Unrecht, das weiß ich nicht. Aber andere kamen und haben dort, wo einst der Scheiterhaufen stand, eine Kapelle errichtet, und die Kapelle ist der Nonne geweiht worden. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Außerdem liegt es einige Jahrhunderte zurück.«
»Das war schon viel«, lobte ich ihn. »Wenn das alles stimmt, dann müßte doch eigentlich die Kapelle zu einem Wallfahrtsort geworden sein. Oder liege ich da falsch?«
»Ganz und gar nicht. Für Elenor Hopkins ist sie ja zu einem Wallfahrtsort geworden. Sie besuchte sie täglich.«
»Hat Ihre Frau denn darüber mal mit den Eltern des Mädchens gesprochen? Wenn Sie sich so gut kennen, müßte das eigentlich der Fall gewesen sein.«
»Das hat sie natürlich. Es war ja auch nicht unsere Sache. Wir konnten uns da nicht einmischen. Und die Eltern schafften es nicht, ihre Tochter davon abzuhalten. Sie ist hingegangen, sie wird es immer wieder tun. Die Kapelle ist für sie das eigentliche Zuhause, dieses Gefühl hat wohl jeder im Ort. Alle anderen Einwohner meiden die Kapelle. Sie fühlen sich dort nicht wohl. Das sollte man akzeptieren.«
»Da haben Sie recht, Mr. Ferguson«, sagte Suko. Er war mit seiner Fragerei noch nicht am Ende, als der Feuerwehrmann bereits Anstalten traf, von uns wegzugehen. »Noch etwas, Mr. Ferguson, dann lassen wir Sie Ihren Job machen.«
»Bitte.«
»Glauben Sie, daß die Wunderheilungen oder angeblichen Wunderheilungen durch Elenor Hopkins mit den Besuchen in der Kapelle zusammenhängen? Haben Sie daran schon
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