0770 - Kind der Finsternis
das Kind nicht von Nakula Kumar bekommen hatte, von wem dann?
Sie rechnete innerlich. Aber ihr fiel überhaupt kein anderer Mann ein, mit dem sie im fraglichen Zeitraum zusammen gewesen war. Einmal ganz abgesehen davon, dass sie es mit der Empfängnisverhütung ziemlich genau nahm.
Tagtäglich konnte Asha Devi auf den Straßen von New Delhi die Folgen ungenügender Vorsorge besichtigen. Frauen in ihrem Alter, die wie Sechzigjährige wirkten und nichts anderes als Gebärmaschinen waren.
»Ich werde dein Geheimnis niemandem verraten, Nakula.«
Mit diesen Worten stand die Inspektorin auf. Sie hauchte ihrem Ex-Lover einen Kuss auf die Wange. Dann ging sie hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Nakula Kumar atmete tief durch. Er wusste, dass er soeben das Äußerste an Entschuldigung gehört hatte, zu dem Asha Devi fähig war.
***
Eine Verbrennungsstätte, New Delhi, Indien
Der fahle Vollmond stand über dem düsteren Ort. Die nächste Straßenlaterne war einen Steinwurf entfernt. Bisher war noch niemand auf die Idee gekommen, die Verbrennungsstätte zu beleuchten.
Die Toten brauchten keine nächtlichen Lichter mehr. Ihre sterblichen Überreste glimmten noch von dem Feuer, das sie verzehrt hatte. Die Gestelle, auf denen die Leichenteile lagen, wirkten wie bizarre Sportgeräte.
Allerdings würde wohl kein normaler Mensch auf den Gedanken kommen, hier Klimmzüge zu machen, dachte Asha Devi mit schwarzem Humor. Die Polizistin musste sich selbst gegenüber einräumen, dass die Verbrennungsstätte andererseits auch kein guter Platz für einen nächtlichen Spaziergang war.
Die Dalits, die für diese Leichenstätte verantwortlich waren, warfen der Polizistin misstrauische Blicke zu.
»Ihr könnt Feierabend machen«, sagte Asha Devi zu den armen Teufeln in ihren dreckigen Hüfttüchern, ihrem einzigen irdischen Besitz. »Ich werde euch schon keine halb verkohlten Körper klauen!«
Demütig schlichen die Dalits davon. Sie waren es gewohnt, dass alle Mitglieder höherer Kasten auf ihnen herumtrampelten. Dabei wäre die indische Gesellschaft ohne sie innerhalb einer Woche zusammengebrochen. Den Dalits oblag nämlich nicht nur die Leichenverbrennung, sondern auch die Straßen- und Toilettenreinigung.
Asha Devi, die in die hohe Brahmanen-Kaste hineingeboren worden war, machte sich über solche Dinge niemals Gedanken.
Sie war aus einem ganz bestimmten Grund zu dieser Verbrennungsstätte gekommen…
»Ich rufe dich, o Kali!« Asha Devi faltete die Hände vor der Brust und verneigte sich. Ihr Blick glitt über die schwarz-verkohlten, sterblichen Reste der Toten. Wegen der Hitze mussten die Leichen meist noch am Tage ihres Todes verbrannt werden.
Ein Ekel erregender Geruch lag über dem düsteren Ort. Im blassen Licht des Vollmondes wirkten die verbrannten Toten wie Schlafende, die im nächsten Moment erwachen konnten…
Asha Devi fürchtete sich nicht. Bei ihrem Job als Dämonenpolizistin war sie schon an viel entsetzlicheren Plätzen gewesen. Trotzdem musste die Inspektorin zugeben, dass sie sich zweifellos an einem der widerwärtigsten Orte von New Delhi befand. Aber gerade deshalb hoffte sie ja, hier die von ihr angerufene Entität zu finden…
Die Polizistin war allein. Die Dalits hatten sich längst verkrümelt. Nur das verbrannte Holz führte scheinbar ein Eigenleben, knarrte und ächzte. Manche der halb verkohlten Leichentücher bewegten sich wie groteske Fahnen leicht im Wind.
Asha Devi wollte ihre Anrufung schon wiederholen. Doch da manifestierte sich plötzlich eine furchtbare Gestalt zwischen den Toten-Gestellen.
Die Entität hatte eine schwarze Haut und blutunterlaufene Augen. Blut floss auch aus ihren Augenwinkeln und ihrem reißzähnegespickten Maul. Der Körper war der einer schönen, verführerischen Frau. Eine Kette aus aufgereihten Totenschädeln verunzierte ihren Hals. Und in jeder ihrer zahlreichen Hände hatte sie eine Hieb- oder Stichwaffe.
Kali, die indische Göttin des Todes und der Vernichtung, zeigte sich Asha Devi in ihrer üblichen Anbetungsform. »Was willst du von mir, große Dämonenbezwingerin?«
Kalis Stimme triefte vor Hohn. Sie wollte es auskosten, Asha Devi so ratlos und Hilfe suchend zu sehen. »Ich will mein Kind!« Die Inspektorin kam sofort zur Sache.
»Dein Kind, soso. Ich habe es aber nicht, dein Kind, Asha Devi.«
»Du weißt aber, wo es ist!«
»Kann sein.« Die Todesgöttin lachte so laut, dass das Blut aus ihrem Maul spritzte und Ashas Uniform
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