0770 - Kind der Finsternis
Augen ließen die meisten Frauen sofort schwach werden. Und seine sportliche und geschmeidige Figur trug ebenfalls dazu bei, ihn unwiderstehlich erscheinen zu lassen.
Doch an diesem Tag wollte Nakula Kumar keine Lady verführen, sondern das Geschäft seines Lebens machen… »Ist das Team schon versammelt, Miss Jaipur?«, fragte er seine Sekretärin.
»Jawohl, Sir. Alle warten im Besprechungsraum. Die Ladys haben Saris angezogen, wie Sie es befohlen haben.« Der Werbe-Boss lächelte gewinnend. »Und das aus gutem Grund! Ich kenne die Amerikaner. Die sind ganz wild auf so etwas. Tradition, Exotik und so weiter. Wir hatten bei uns in Indien schon längst eine Hochkultur, als bei denen noch die Bisonherden gegrast haben! Auf jeden Fall müssen wir Mr. Barnes beeindrucken. Damit wir diesen Fünf-Millionen-Dollar-Auftrag kriegen! Und nicht die Konkurrenz!«
Die Sekretärin lächelte automatisch. Seit Monaten lag Nakula Kumar ihr mit diesem millionenschweren Auftrag in den Ohren. Allerdings musste sie zugeben, dass er vielleicht deshalb so erfolgreich war. Weil er sich in seine Vorhaben festbiss wie ein Kettenhund… Der Werber stiefelte in den Besprechungsraum. Dort hatte man das Treffen mit den amerikanischen Kunden sorgfältig vorbereitet. Die Fenster waren noch am Vortag geputzt worden. Das war bei dem New-Delhi-Smog auch nötig. Auf dem langen Konferenztisch standen duftende Lotusblumen. Und die Texter, Grafiker und sonstigen Kreativen hatten sich in ihr bestes Outfit geworfen.
Sie sprangen auf, als ihr Herr und Meister den Raum betrat.
»Immer cool bleiben, Leute!«
Nakula Kumar ließ sein unwiderstehliches Zahnpasta-Reklame-Lächeln sehen. So hatte er einst seine Karriere begonnen, als Model für eine neue Zahncreme-Marke.
Inzwischen war er Inhaber einer der wichtigsten indischen Werbeagenturen. Und wenn es nach ihm ging, würde seine Firma bald die wichtigste überhaupt sein…
Der Werber machte mit seinen Angestellten noch eine Generalprobe. Es kam auf jeden Satz, auf jede Geste an. Ein falsches Wort, und der Millionenauftrag versank wie eine Leiche im Ganges.
Und dann war es so weit.
Mr. Barnes und seine Assistenten erschienen pünktlich auf die Minute. Nakula Kumar begrüßte seine zukünftigen Kunden herzlich, aber formvollendet.
»Ich bin sehr gespannt auf Ihre geplante Kampagne«, sagte Allister Barnes. Er schaute den Inder wohlwollend an.
Nachdem die Amerikaner im Besprechungsraum Platz genommen hatten, gab Nakula Kumar einem seiner Männer ein Zeichen. Mit einem Overheadprojektor wurde eine farbige Grafik an die Wand geworfen.
»Wie Sie zweifellos wissen«, begann Nakula Kumar mit einschmeichelnder Stimme, »hat Indien inzwischen über eine Milliarde Einwohner. Unser Land ist einer der größten Wachstumsmärkte des 21. Jahrhunderts. Wir…«
In diesem Moment ertönte vor der Tür ein Tumult.
Mindestens zwei weibliche Stimme kreischten um die Wette.
Dann wurde die Tür aufgestoßen!
Eine Polizistin in Uniform stürmte in den Raum, gefolgt von der verzweifelten Sekretärin.
»Ich habe alles getan, Mr. Kumar!«, jammerte die Vorzimmer-Lady. »Aber…«
Der Werber fiel aus allen Wolken.
»Asha! Was um alles in der Welt…?«
»Ich muss mit dir reden!«, knurrte die Inspektorin. »Und zwar sofort!«
»Bist du wahnsinnig? Ich habe keine Zeit, wir…«
»Das werden wir ja sehen!«
Während Nakula Kumar sprach, stampfte Asha Devi ungerührt auf ihn zu. Sie packte ihn an der Krawatte.
»Komm mit!«
Allister Barnes versuchte, den peinlichen Auftritt mit Humor zu nehmen.
»Ist das ein spezieller Gag, Mr. Kumar? Indischer Humor, sozusagen?«
»Schnauze, Dicker! Sie hat keiner gefragt!« Asha Devi richtete ihren Zeigefinger wie eine Waffe auf den entgeisterten Geschäftsmann. »Ich höre an Ihrem Akzent, dass Sie Amerikaner sein müssen! Noch ein Wort, und Sie sitzen schneller in Abschiebehaft, als Sie ›damned!‹ sagen können!«
Allister Barnes, der wirklich leicht übergewichtig war, lief rot an. Ob vor Zorn oder vor Scham, konnte niemand sagen. Aber er schwieg wirklich.
Asha Devi zerrte so stark an Nakula Kumars Krawatte, dass dem Werber die Luft wegblieb.
»Wir gehen in dein Büro! Was wir zu besprechen haben, geht keinen etwas an!«
Es blieb dem Werber nichts anderes übrig, als sich von der Inspektorin aus dem Raum zerren zu lassen. Die Blicke von Allister Barnes sprachen Bände. Er würde zweifellos fünf Millionen Dollar auf dem indischen Markt investieren. Aber ebenso
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