0775 - Haus der Toten
kennen gelernt hatte, war er innerhalb von wenigen Tagen ebenfalls hoffnungslos in sie verliebt gewesen. Aber David war nun mal sein Freund, also hatte er sich mit der Rolle des fünften Rades am Wagen abfinden müssen. Obwohl er mittlerweile längst daran gewöhnt sein müsste, fiel es Jack an manchen Tagen nach wie vor schwer, sich nichts anmerken zu lassen, wenn er mit den beiden zusammen war.
Und heute war offenbar einer von diesen Tagen.
Ein, zwei Minuten lang versank Jack in Tagträumen, Szenarien, die wie kleine Filme vor seinen Augen abliefen: Sie verlässt David. Sie mag ihn immer noch, aber sie hat eingesehen, dass sie in Wahrheit Jack liebt. Alle bleiben Freunde.
Oder: Das Dach stürzt ein. David wird begraben, aber Jack gelingt es, Jenny in letzter Sekunde zu retten. Sie überwindet ihre Trauer mit seiner Hilfe.
Oder: David und Jack streiten sich. David schlägt ihn. Jack schlägt zurück. David wirft ihn zu Boden. Jacks Finger schließen sich um etwas Spitzes, Langes. Er springt auf und rammt es mitten in Davids Auge…
Jack schüttelte verwirrt den Kopf. Worüber hatte er gerade nachgedacht?
Verdammtes Dope. Er war gerade völlig weggetreten gewesen. Sein Blick fiel auf David und Jenny. Ach ja, richtig. Daran hatte ich gedacht. Er seufzte. Genug gebrütet!, beschloss er schließlich.
»Also dann«, sagte Jack laut, um sich von seinen Gedanken loszureißen, »wir sind nicht hier, um die ganze Zeit rumzusitzen. Ich gehe auf Erkundungstour.«
Damit sprang er auf, schnappte sich seine Taschenlampe und stürmte die Treppe hoch, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Stufen morsch sein könnten.
»Zählt bis zehn, bevor ihr mich suchen kommt!«, rief er den anderen über die Schulter zu.
»Hey, warte mal!«, brüllte David ihm hinterher, aber Jack war schon mit einem Lachen in der Dunkelheit verschwunden. »Mist«, murmelte David. »Wenn der Vollidiot hier so rumtrampelt, fällt uns die Decke doch noch auf den Kopf.«
»Was soll’s«, kicherte Jenny, die bereits die Wirkung des Joints spürte. »So merkt er’s wenigstens als Erster, wenn irgendwas einstürzt.«
»Und dann müssen wir die Bullen rufen und erklären, was wir hier zu suchen hatten.«
»Komm schon, David! Sei kein Spielverderber.« Damit drückte Jenny ihm einen Kuss auf die Lippen, machte sich los und nahm ihre Taschenlampe. »Mal schauen, wen du zuerst findest« lachte sie und rannte los.
Kopfschüttelnd nahm David seine eigene Taschenlampe. Von mir aus, dachte er. Dann spielen wir eben Verstecken.
Er zählte leise bis zehn. Dann ging er den anderen hinterher.
Nur der CD-Spieler blieb alleine im Dunkeln zurück.
Plötzlich ging etwas wie ein Luftzug durch den Raum. Der CD-Player wurde hochgerissen und mit einem markerschütternden Krachen gegen eine Wand geschleudert, wo er in tausend Stücke zersplitterte.
Die Stille wurde von einem leisen Stöhnen durchdrungen…
***
22. Dezember 1894
Liebste Claire,
Ich werde diesen Brief nie abschicken, aber wenn ich mich nicht wenigstens in Gedanken irgendjemandem anvertraue, werde ich gewiss wahnsinnig werden.
Was zwischen Charles und mir geschehen ist, ist eine Sünde, und ich bin mir sicher, dass ich dafür in der Hölle enden werde. Aber diese Hölle ist noch weit entfernt und wenn ich durch Charles dem Fegefeuer entfliehen kann, in dem ich heute lebe, nehme ich die Strafe dafür gerne auf mich.
Es ist seltsam, wie die Liebe zwischen zwei Menschen erlöschen kann. Bei meiner Hochzeit war ich mir sicher, dass John und ich füreinander geschaffen sind. Und jetzt, nur wenige Jahre später, kann ich kaum ein Wort mit ihm reden, ohne ihn so wütend zu machen, dass er aus dem Zimmer stürmt.
Ich weiß, dass das, was ich getan habe, unentschuldbar ist. Aber ich weiß auch, dass es nicht dazu gekommen wäre, wenn John mich an jenem Tag nicht so beschimpft hätte. Was bleibt einer Frau, wenn der eigene Mann sie nur noch voller Ekel ansieht?
Ich sehe nur noch einen Ausweg. Ich muss John gestehen, was geschehen ist. Nichts kann schlimmer sein, als so weiterzumachen.
Gib auf dich Acht, meine kleine Claire. Und bete für mich.
In Liebe,
Charlotte
***
Heute
Der Dekan fuhr mit beträchtlicher Geschwindigkeit über die menschenleere Landstraße. Zu beiden Seiten seines Chrysler Cherokee zog eine dunkle Waldlandschaft an ihnen vorbei. Abseits der Lichtkreise der Scheinwerfer konnte man nur schemenhafte Umrisse erkennen. Bis auf sie war die Straße völlig unbefahren.
»Da
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