0776 - Racheengel Lisa
gespürt. Sie hat sich gemeldet.« Auf Lisas Gesicht breitete sich so etwas wie ein heller Schein aus. Es bekam einen verklärten Ausdruck. »Es war wunderbar, Dad. Ich habe die Anwesenheit der Mutter genau gespürt. Sie war an meiner Seite, sie hat sich wohl bei mir gefühlt, und ich habe mich wohl bei…«
»Nein, sie liegt im Grab!«
»Hör auf. Das ist ihr Körper. Weißt du überhaupt, was der Körper eines Menschen wert ist? Nichts, gar nichts. Er besteht zum größten Teil aus Wasser, Knochen und Staub. Der Körper ist nur eine Hülle. Mummys Leib ist tot, mehr auch nicht.«
Er ging zwei Schritte auf seine Tochter zu. Lisa ließ ihn. »Wo hast du deine Mutter denn gesehen, Kind?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht gesehen, nur gespürt, wenn du verstehst. Ihr Geist war bei mir und hat mich berührt. Er ist aus den Höhen des Himmels zu mir gekommen, um mir Trost zu spenden. Mummy ist von den Engeln aufgenommen worden, und sie ist selbst ein Engel. Ebenso wie ich zu ihnen gehöre.«
Alfred Darius hatte die Worte gehört, nur begriff er sie nicht. Sie waren ihm zu hoch, er konnte sich nicht in die Lage seiner Tochter hineindenken. Engel waren Wesen, die mehr in das kindliche Glaubensverständnis hineingehörten, wobei er auch an Weihnachten dachte mit all seinem Kitsch, wo pausbäckige Posaunenengel ebenfalls eine große Rolle spielten.
»Du glaubst mir nicht, Dad?«
Darius hatte sein Erschrecken überwunden und hoffte auch, dass Lisa nichts merkte. »Wie soll ich dir glauben, wenn ich es nicht nachvollziehen kann? Ich sehe keine Engel, ich bin mir nicht sicher, ob es sie überhaupt gibt.«
»Es gibt sie, Dad, verlass dich darauf.«
»Ich kann es nicht…«
»Mummy ist ein Engel! Sie war bei mir. Ich habe sie gespürt. Dann bist du gekommen, und du hast uns gestört.«
Darius ließ sich von den Worten seiner Tochter nicht beeindrucken, er ging weiter auf sie zu, schaute dabei zu Boden und entdeckte die dunklen Flecken, die beim ersten Hinsehen wie dünner Teer wirkten, ihn jedoch beim zweiten Blick stutzen ließen, weil er das dunkle Rot schon erkannte.
Rot wie Blut!
Er schluckte, holte dann tief Luft und traute sich kaum, in das Gesicht seiner Tochter zu schauen. Als er es schließlich tat, sah er ihr Lächeln, und da wusste er, dass Lisa seine Entdeckung ebenfalls nicht entgangen war.
Er blieb wieder stehen.
Nicht mehr weit von seiner Tochter und dem Grab seiner Frau entfernt.
Es war eine gefährliche Nähe, doch daran dachte er nicht. Da das Blut sehr frisch aussah, konnte er sich vorstellen, von wem es stammte. Von einem weiteren Opfer.
Der Mann hob den Blick und sprach den Namen seiner Tochter gepresst und stöhnend aus.
Sie legte den Kopf schief. »Hast du was?«
»Ja«, flüsterte er, »die Flecken auf dem Boden. Das… das ist doch Blut, verdammt!«
»Nicht fluchen, Dad, das gehört sich nicht. Nur Böse fluchen.« Sie streckte ihm den linken Arm entgegen. »Nein, nein…«
»Aber es ist Blut!«
Da nickte sie. »Ja, Blut. Das Blut eines bösen Menschen, der mir etwas tun wollte. Ich bin ihm zuvorgekommen, ich war schneller, Dad. Ich bin immer schneller, denn ich stehe unter dem großen Schutz der mächtigen Geister.«
»Du hast getötet? Wieder mal?«
»Es musste sein, Daddy, denn es ist meine Aufgabe.«
Eisige Kälte erfasste den Mann. Von seiner eigenen Tochter schien ihm der Hauch des Todes entgegenzuwehen. Sie war äußerlich ein Mensch, im Innern aber ein Monstrum, das wurde ihm immer klarer, denn seine Tochter war gefangen, und zwar von Kräften, die er nicht nachvollziehen und begreifen konnte.
Mächte des Wahnsinns…
Ihr Geist hatte sich verwirrt. Er war schon immer verwirrt gewesen, bereits vor den Taten, als Lisa mit ihrer Mutter zusammen über den Karten gehockt und sie miteinander über schlimme Dinge geflüstert hatten. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Bisher hatte er ihr noch eine Chance geben wollen. Nun musste er einsehen, dass dies nicht klappte. Es war einfach zu spät.
Er schaute in ihre Augen. Waren das noch Augen eines Menschen?
Diese beiden glasig wirkenden Pupillen, die eigentlich so leer erschienen, in denen trotzdem ein furchtbarer Ausdruck stand, ein grausames Versprechen, das um den Begriff Tod kreiste.
Er fror stärker…
Lisa aber hatte längst bemerkt, welche Wandlung ihr Vater durchmachte. Ihr Verstand mochte verwirrt sein, das Feeling war es nicht.
Zudem war der Kontakt zum Vater noch nicht abgerissen, da gab es noch ein Band, wie es
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