0776 - Racheengel Lisa
schwebte innerhalb von grauen und grünen Farbtönen. Die Natur zog sich zum Sterben zurück. Sie lag da wie in einem tiefen Dornröschenschlaf. Es war eine Insel, eine Welt für sich. Nichts hörten wir, bis auf die Geräusche der Autos, die über die nicht weit entfernte Schnellstraße fuhren. Der Wind trug die Laute heran. Einige Wohnhäuser standen in gebührender Entfernung des Friedhofs, und vor dem Eingang endete die Straße. Sie war auch nicht mehr die beste, an zahlreichen Stellen von Querrissen durchzogen. Für eine Instandsetzung fühlte sich niemand zuständig.
Alfred Darius fröstelte, als er sich umschaute. Ob es die Kühle war, die ihm zu schaffen machte, war fraglich. Es konnte auch an der inneren Kälte liegen und natürlich an der Erinnerung, die für ihn bestimmt nicht positiv war.
»Ich hätte eine Bitte«, sagte er.
»Welche?«
Er blickte mich nachdenklich und auch zwingend an. »Ich möchte gern an Ihrer Seite bleiben, wenn Sie das Grab meiner Frau besuchen. Ich könnte Ihnen den Weg beschreiben, aber es ist besser, wenn ich selbst mitgehe. Ist das in Ihrem Sinne?«
»Sicher, dagegen haben wir nichts. Was ist, wenn wir Ihre Tochter dort sehen, wenn es tatsächlich stimmt, dass sie sich ans Grab der Mutter zurückgezogen hat?«
»Was soll dann sein?«
»Wie würden Sie reagieren?«
Er hob die Schultern. »Tut mir Leid, ich verstehe nicht, was Sie meinen…«
Suko erklärte es ihm. »Mr. Darius, Ihre Tochter ist eine mehrfache Mörderin, das wissen wir, das weiß sie. Wir glauben kaum, dass sie sich so ohne weiteres festnehmen lassen wird. Sie wird sich wohl wehren, sie ist bewaffnet, und es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass auch wir Gewalt anwenden müssen.«
Er sah zu Boden. Wir gaben ihm die Zeit, um nachzudenken. Dann sagte er nach einer Weile: »Das sehe ich ein. Trotzdem möchte ich an Ihrer Seite bleiben, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Wie Sie wollen.«
»Darf ich mit ihr reden? Ich bin der Vater. Es ist möglich, dass ich sie davon überzeugen kann, keine Dummheiten zu tun. Es wäre nett, wenn Sie mir dies erlauben würden.«
Ich stimmte nicht zu, auch Suko hatte Bedenken. Wir einigten uns darauf, dass wir so handeln würden, wie es der Situation entsprach.
Damit gab Darius sich zufrieden.
Wir zögerten nicht mehr und machten uns auf den Weg. Es wurde ein Marsch durch ein traurig und düster wirkendes Gelände. Ein herbstlich gefärbter Friedhof kann für einige Menschen ein romantischer Ort sein, für uns war er es nicht. Zudem mussten wir auf der Hut sein. Es war durchaus möglich, dass Lisa Darius mit einem Besuch rechnete und sich entsprechend vorbereitet hatte.
Wir sahen nichts von ihr. Überhaupt war der Friedhof, soweit wir das erkennen konnten, menschenleer. Nur die im Sterben liegende Natur umgab uns. Lange konnten wir uns nicht aufhalten. Wenn erst der Abend begann, würden wir kaum etwas erkennen können.
Schon jetzt waren die Schatten ziemlich lang und an manchen Stellen auch dicht.
Darius hatte es ziemlich eilig. Er schien es kaum erwarten zu können, an das Grab zu gelangen. Er war auch nervöser geworden, atmete heftiger als gewöhnlich, ging uns mit langen Schritten voraus, was ihm, dem Kleineren, Mühe bereitete.
Ich prägte mir den Weg ein. Er führte uns zum Zentrum des Friedhofs, wo die Gräberfelder von dichten Büschen und Hecken umrahmt wurden, sodass das Bild mehr dem eines Parks glich.
Ich wäre beinahe gegen Darius gelaufen, als er plötzlich stehen blieb, durchatmete und über eine Hecke hinwegdeutete. »Dahinter finden wir das Grab meiner Frau. Es liegt auf dem neuen Feld. Wenn wir das ältere durchqueren, kommen wir ziemlich ungesehen hin.«
»Gut.«
Darius war nervös geworden. Einige Male schaute er sich um und blickte auch zum Himmel, dann wieder nach vorn und schob sich durch eine Lücke.
Wenig später war es so weit.
Wir sahen nicht das Grab, aber wir sahen die Mörderin.
Sie stand völlig normal auf dem schmalen Weg vor dem Grab und schaute mit gesenktem Kopf zu Boden. Wie jemand, der in Gedanken versunken ist oder betet.
Wir waren nicht mehr weitergegangen. Auch Lisa hatte uns nicht entdeckt. Sie dachte gar nicht daran, den Kopf zu drehen, aber sie bewegte sich, und für uns sah es so aus, als würde sie gegen das Grab flüstern und ihre Worte dabei durch Bewegungen unterstreichen.
Ich tippte Suko an, der nickte. Darius hatte das Zeichen gesehen, er wertete es falsch und schüttelte den Kopf. »Nein, nein,
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