0776 - Racheengel Lisa
Häschern nicht in die Arme laufen, sondern musste versuchen, alles umzudrehen und sie zur Hölle zu schicken.
Den Pfahl hielt sie schräg vor ihrer Brust und mit beiden Händen umklammert. Er kam ihr vor wie ein großer Rettungsanker. Sie musste ihn einfach behalten, sie durfte alles verlieren, nur ihn nicht.
Den Mantel hatte sie nicht geschlossen. Durch das schnelle Laufen wehte er hinter ihr hoch, verfing sich manchmal in den Zweigen des Strauchwerks. Sie riss ihn wieder weg, und es blieben Löcher oder an den Rändern Fetzen zurück.
Weiter, nur weiter!
Lisa wusste nicht einmal, wohin sie laufen sollte. Jedenfalls brauchte sie ein Versteck, und das konnte sie auf dem Friedhof schwerlich finden, denn sie hörte, dass sich hinter ihr etwas tat. Die Schritte des Verfolgers waren zu vernehmen, hin und wieder unterbrochen von dem Knacken der Zweige und dem Rascheln des Laubs.
Aber wohin?
Der Weg nach Hause war weit, zu weit. Es gab nur die Chance, sich außerhalb des Geländes zu verbergen, und da fiel ihr leider auch nichts ein.
Bis auf einen Bau!
Ein Haus dicht neben der Leichenhalle. Es war alt und ziemlich klein. Es hatte ein spitzes Dach, einen Kamin ebenfalls. Das alles hatte sie noch vom Herweg in Erinnerung, und sie suchte sich genau dieses Haus als Ziel aus.
Sie wollte hin. Und sie musste so schnell sein, dass der Verfolger nichts merkte.
Lisa verbiss sich derart in den neuen Gedanken, dass sie die Schläue des Verfolgers unterschätzte. Sie kam überhaupt nicht auf den Gedanken, sich selbst eine Falle zu stellen, brach taumelnd aus der Deckung zwischen den Bäumen hervor und war froh, den Hauptweg zu erreichen, der sie direkt zum Ziel führen würde.
Sie schaute sich nicht um, das hätte sie Zeit gekostet. Keine Sekunde durfte verloren werden, und mit jedem Schritt, den sie keuchend zurücklegte, wuchs ihr Hass auf die Männer. Er war wie eine Flamme, die immer höher fauchte, und sie malte sich bereits ein schreckliches Ende aus. Sie sah den Mann vor sich liegen. In seiner Brust war ein tiefer blutiger Krater – und… und … und …
Ihre Schritte wurden schleppender. Lisa war es nicht gewohnt, so lange und so schnell zu laufen. Immer schwerer fiel es ihr, die Beine zu heben, und es gab Momente, wo sie sich am liebsten zu Boden geworfen und ausgeruht hätte.
Dann hörte sie die Stimme hinter sich. Sie verstand nicht alle Worte, aber dass sie stehen bleiben sollte, das hörte sie schon. Alles, nur das nicht. Die Worte erreichten genau das Gegenteil, sie putschten sie auf, sie erhielt den Kick, der nötig war, um weiterzulaufen.
Der Ausgang!
Das breite Tor mit dem freien Platz davor und dahinter. Ihre Tritte knirschten sehr bald schon über den gestreuten Kies, den die Witterung glatt geschliffen hatte.
Lisa kämpfte sich heran, warf den Körper nach links, rutschte aus und fing sich wieder.
Sie sah das Haus!
Es war sehr schmal, sehr alt, aus dunklen Steinen errichtet. Sie wusste nicht, wer dort wohnte, wahrscheinlich der Totengräber oder ein anderer Friedhofsangestellter wie der Gärtner. Egal, sie würde hineinkommen und alle Hindernisse aus dem Weg räumen.
Zwar konnte Lisa direkt auf die Vordertür schauen, doch den Weg nahm sie nicht. An der linken Hausseite lief sie entlang und fand dort auch so etwas wie einen schmalen Weg, den an einer Seite dichtes Gestrüpp säumte.
Über den Spaten und die Schaufel wäre sie beinahe gestolpert.
Blitzartig kam ihr eine neue Idee. Sie packte den Spaten mit einer Hand und drehte sich um.
Nicht weit entfernt sah sie das Fenster.
Mit dem Spaten schlug sie es ein. Die Scheibe zerbrach klirrend.
Die Scherben fielen nach innen. Lisa konnte endlich in das Haus hineinklettern, das ihr wie eine düstere Höhle vorkam. Sie steckte den Pfahl weg und schleuderte den Spaten in das Zimmer. Dann kletterte sie hinterher und fand sich in einem muffig riechenden Raum wieder. Jetzt sah sie auch, weshalb sie kein Geräusch gehört hatte, als der Spaten in das Zimmer geflogen war. Er war auf ein Bett gefallen und lag auf dem hochgetürmten Kissen.
Bett und Zimmer waren leer.
Den Spaten nahm sie nicht mit, als sie die Wohnung durchquerte.
Die Tür öffnete sie behutsam. Ein schmaler Flur lag vor ihr. Sie sah eine Garderobe, an der mehrere Kleidungsstücke hingen, und nicht nur die Arbeitskleidung des Totengräbers oder Gärtners. Auch einen Frauenmantel sah sie und ebenfalls Kinderkleidung.
Hier lebte eine Familie. Auch böse, und Lisa fletschte die Zähne
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