0784 - Der Seelenangler
Doch die Russen waren seit jeher Meister im Improvisieren, und sie nahmen es nicht so genau.
Saranow schlug sich durch, als Privatgelehrter, Dozent, mit Akademievorträgen und Lesungen an der Universität. Sogar für die Rote Mafia hatte er schon gearbeitet und einen Geist zur Strecke gebracht, der ihre Kreise störte. Dafür war er gut bezahlt worden.
An diesem Tag hatte Saranow schon in aller Frühe einen Anruf vom Innenministerium erhalten und war zur Ljubljanka geeilt. Es grauste ihn, als er den Hinrichtungsraum im früheren Folterkeller des KGB betrat. Was er dort erfuhr, setzte ihm noch mehr zu.
Swetkin, der Kannibale von Moskau, war entweder schon immer ein Dämon gewesen, zu einem geworden oder von einem befreit worden. Saranow hatte ein paar Konferenzen und Ermittlungen hinter sich. Am frühen Nachmittag war er wieder zu seiner Wohnung zurückgefahren, mit der U-Bahn, einen eigenen Wagen hatte er nicht.
Dort schlug er in seinen Unterlagen nach, recherchierte auch im Internet und entwickelte eine intensive Tätigkeit. Doch bald wusste er, dass er allein nicht weiterkam.
Zudem trafen Meldungen der Polizei, aus dem Kreml und vom Innenministerium bei ihm ein. Swetkin war und blieb spurlos verschwunden. Was er noch anrichten würde, wusste keiner, doch man musste mit einer Mordserie durch ihn rechnen, die schlimmer denn je war.
Bisher war Swetkins Verschwinden vor der Öffentlichkeit geheim gehalten worden. Obwohl Russland ein demokratischer Staat geworden war, herrschten hier noch immer drastische Methoden. Im Westen wäre es nicht möglich gewesen, die Vorkommnisse an diesem frühen Morgen vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen.
Hier ging es. Das Erbe der kommunistischen Diktatur steckte vielen noch in den Knochen. Wenn der Staat befahl »Schweig!«, waren sie still. Gulags, die berüchtigten Straflager, gab es nicht mehr, doch Russlands Gefängnisse und Zuchthäuser lieferten Amnesty International noch immer viel Arbeitsmaterial und gaben Gründe zu Interventionen.
»Ich muss Zamorra anrufen«, murmelte Sarañow. »Es ist ungeheuerlich, was da passiert ist. Der Kannibale ist ein Dämon geworden und verfügt über ungeheure Kräfte und eine gewaltige Macht. Er muss gestoppt werden, sonst sind die Folgen unabsehbar.«
Saranow wollte jedoch zuerst einmal einen Tee trinken. Er zapfte ihn aus dem Samowar in die verzierte Tasse, Porzellan aus der Zarenzeit, und goss einen guten Schuss Wodka hinzu, um den Geschmack abzurunden.
Ein Fenster seines Arbeitszimmers stand offen. Es führte zur Straße, was Saranow noch nie gestört hatte. Er hörte Verkehrslärm und Stimmen.
Dann sah er etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ein leuchtender Mann mit einem Messer in der Hand schwebte frei in der Luft, auf sein Fenster zu. Auf der Straße ertönten Schreie. Autos stoppten, es krachte, als ein Autofahrer einem anderen hinten auffuhr, der abrupt auf die Bremse getreten hatte.
Der leuchtende Mann glühte von innen heraus. Es musste Swetkin sein, dämonisch verwandelt, so wie ihn die Zeugen Saranow beschrieben hatten. Er drohte Saranow mit dem Messer.
»Dobry dzin (Guten Tag!), Professor Saranow!«, rief er, was makaber war. »Ich bin erfreut, Sie zu sehen.«
Die Teetasse fiel Saranow aus der Hand. Der Tee bildete einen Fleck auf dem Teppich.
»Was willst du von mir, du Mörder?«, fragte der Professor.
»Dich töten, aufschlitzen, zerstückeln, dein Blut trinken.« Swetkins rauhe Stimme gellte. Auch sein struppiger Bart leuchtete. »Aber noch nicht heute, nicht gleich. Ich weiß alles über dich. Bestelle deinem Freund Zamorra in Frankreich einen Gruß von mir. Von jetzt an werde ich jeden Tag in Moskau einen Menschen töten. Auch heute ist noch einer fällig, ein Opfer, das ich dem Satan weihe, der Lioba, Lacousse und Marchosias tötete. Er hat mich in einen Dämon verwandelt, was ich im Grund meines Wesens immer schon war.«
Marchosias war Saranow ein Begriff, Höllenprominenz sozusagen. Mit den Namen Lioba und Lacousse vermochte er nichts anzufangen.
»Auch heute wird noch einmal Blut von meinem Messer fließen, ehe die Turmuhr am Kreml Mitternacht schlägt«, fuhr der Leuchtende fort.
Saranow starrte ihn an. Hinter dem Leuchtenden sah er wabernde Schatten mit glühenden Augen. Sie wisperten, raunten, zeigten spitze Zähne und Krallen, starrten ihn an.
Oder täuschten Saranow seine überreizten Sinne?
Von einem Augenblick zum anderen verschwand die leuchtende Erscheinung, als ob sie sich
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