0796 - Larissas blutiger Weg
platzte vor Neugierde, in den letzten Monaten hatte sie viele Bücher gelesen, die in früheren Zeiten, als das Land noch totalitär regiert wurde, verboten waren. Sie hatte schon über die Welt da draußen nachgelesen, deshalb trat sie die Reise nicht unvorbereitet an. Aber mit diesem Schutz konnte sie beim besten Willen nichts anfangen, deshalb hob sie die Schultern.
»Nicht?«, fragte die Alte.
»Nein.«
»Ich werde es dir zeigen. Es wird dich überraschen, meine Kleine, aber du wirst dich daran gewöhnen. Ich will dir nur sagen, dass ich lange gebraucht habe, um mich selbst davon zu überzeugen, dich einzuweihen. Du bist mir von allen am liebsten gewesen. Ich werde dich nie vergessen, wir werden stets in Verbindung bleiben, denn es gibt Bande, die einfach nicht reißen. Es sind nicht die sichtbaren, nein, diese, von denen ich spreche, die leben im Unsichtbaren, aber es sind die stärksten. Ich denke nur an das Band, dass das Kind mit seinen Eltern verbindet, und man hat dafür auch einen bestimmten Namen.«
»Blutsbande?«
»Du hast es erfasst.«
Larissa schwieg. Sie war durcheinander. Gleichzeitig schwitzte sie auch. Der Begriff Blutsbande war gefallen, und sie störte einfach der Begriff Blut.
Schwer holte sie Luft, fuhr mit der Handfläche fahrig durch ihr Gesicht und schaute sich um, als könnte sie irgendwo im Raum noch etwas entdecken, das ihr bisher nicht aufgefallen war. Sie war immer gern hergekommen, sie hatte sich wohl gefühlt, in diesen Augenblicken aber spürte sie, dass etwas unheimlich geworden war, hier hatten sich die Vorzeichen verkehrt. Es ging ihr nicht mehr so gut. Das Feuer schien dunkler geworden zu sein, die Schatten tiefer, und sie lauerten böse in den Ecken und Winkeln. Die Atmosphäre kam ihr bedrückend vor. Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen, doch sie blieb sitzen und versuchte, ihre Unruhe unter Kontrolle zu bekommen.
Etwas funkelte auf, und ein blitzender Reflex traf ihr rechtes Auge.
Sie erschrak, drehte den Kopf und sah, dass die Mamutschka ein Rasiermesser hervorgeholt und die Klinge aus dem Griff gezogen hatte. Auf ihrem blanken Metall hatte sich der Reflex gefangen und sie für einen Moment irritiert.
Warum das Messer?
Um es zu sehen, hatte sie den Kopf gedreht, und die Alte stand schräg vor ihr. Larissa musste sich beherrschen, um einen Schrei zu unterdrücken. Für sie war aus der Mamutschka eine fürchterliche Person geworden, die tatsächlich einer alten Hexe ähnelte, wie man sie oft auf den Bildern in Märchenbüchern sah. Zudem stand sie so, dass der Widerschein des Feuers gegen ihre Gestalt fiel und sie von der Seite her anmalte, wobei sogar ein verzerrter Schatten entstand, der sich auf den Boden gelegt hatte und etwas krumm aussah.
Auch eine Gesichtshälfte der alten Frau lag im Schatten. Bei der im Licht tanzte das Feuer in der Pupille und gab ihr einen unheimlichen Glanz. Sie sah so aus, als hätte sie nur ein Auge, und dessen Blick war auf Larissa gerichtet.
»Das… das Messer, Mamutschka, was willst du damit? Sag es mir – bitte …«
»Es ist für uns.«
»Wie?«
»Ja«, sagte sie nickend und kam noch einen Schritt näher. »Es ist tatsächlich für uns. Nur für uns beide, wenn du verstehst. Es ist einfach wunderbar, denn ich kann dir versprechen, dass du etwas völlig Neues erleben wirst.«
Der Stuhl, auf dem Larissa saß, kam ihr plötzlich wie ein Todessitz vor. Sie hatte Angst. Mit beiden Händen umklammerte sie die Lehnen, und plötzlich mochte sie das Zimmer nicht mehr. Sie… sie wollte weg, sie wollte verschwinden, raus aus diesem Haus, das ihr vorkam wie ein Gefängnis. Die Mauern waren so dick, zwischen ihnen hielt sich die Angst. Es war ein schreckliches Gefühl, und als sie den Kopf bewegte, schaute sie überall hin, nur nicht auf die alte Frau mit dem Messer.
Die bewegte ihre rechte Hand.
Wieder fing sich ein Lichtreflex auf der blanken Klinge und wanderte zitternd weiter.
»Schau her!«
Larissa drehte den Kopf.
In diesem Augenblick schnitt die alte Frau zu. Sie hatte den Ärmel ihres alten Pullovers an der linken Seite in die Höhe geschoben, und die Klinge hinterließ einen schrägen Schnitt in der Beuge. Das Bild schockte Larissa, obwohl zuerst nichts geschah. Dann aber lief das dunkle Blut hervor und füllte den Schnitt, bevor es überquoll und an der Haut entlang nach unten rann.
»Blut«, flüsterte die alte Hexe und brachte ihren Arm dicht über die Öffnung des Gefäßes. »Blut ist ein besonderer
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