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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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    Auch eine Woche, die ein Leben radikal verändert, beginnt mit einem Montag. Ellens Beine waren unglaublich schwer an diesem Morgen. Es schien, als bewegte sich das Fahrrad durch einen zähen Brei, dabei war die Straße so eben und frei wie an allen Tagen.
    Kriminalhauptkommissarin Ellen Faber verfluchte die Flasche Rotwein, die sie noch kurz vor Mitternacht getrunken hatte. Warum hatte sie nicht die Finger davon gelassen? Sie wusste doch genau, dass sie am nächsten Morgen den Preis dafür zahlen musste. Das war die Strafe, dass sie sich nicht beherrscht hatte. Und damit die Strafe richtig wehtat, hatte sie heute nicht ihr Straßenrad genommen, sondern das schwere Mountainbike – obwohl es in Berlin gar keine Berge gab.
    Es war zwar Sommer, aber um fünf Uhr morgens war die Luft noch kühl. Trotzdem pochte ihr von der Anstrengung das Blut im Kopf. Ellen wollte auch auf dem Mountainbike den Weg zu ihrer Dienststelle in dreißig Minuten schaffen. Dann musste der Restalkohol verbrannt sein und ihr Frust vergessen. Die Kollegen durften nichts merken. Wenn sie irgendetwas ahnten, war das für ihre Autorität ein bitterer Rückschlag. Sie hatte lange dafür kämpfen müssen, um auf eine leitende Position beim Landeskriminalamt zu kommen. Und sie hatte sich ausgerechnet die Abteilung 632 ausgesucht, den Bereich, in dem die Spezialeinsatzkommandos angesiedelt waren. Die SEKs waren noch immer sehr von Männern dominiert. Um dort als Frau zu überleben, musste man hart sein. Erst recht, wenn man in dieser Abteilung Karriere machen wollte.
    Ellen war hart. Nicht nur zu ihren Untergebenen, auch zu sich selbst. Jeden Tag. Auch heute. Sie erlaubte sich nicht einmal den Gedanken, für einen kurzen Moment langsamer zu fahren. Schwer atmend keuchte sie die Straße entlang. Es war eine Nebenstraße, in der um diese Zeit noch nicht viel los war. Das würde sich auf dem Tempelhofer Damm deutlich ändern.
    Die Litfaßsäule kurz vor dem Ende der Straße kam in Sicht. Sie markierte exakt die Hälfte des Wegs zwischen ihrer Wohnung und dem Landeskriminalamt. Ellen hielt den Blick starr auf die Säule gerichtet, während sie noch kräftiger in die Pedale trat. Ganz unten an der Säule hing ein uraltes, vergilbtes Plakat von einem längst vergangenen Madonna-Konzert. Entweder übersahen die Plakat-Kleber es seit Jahren, oder niemand wollte diese schlecht einsehbare Stelle direkt über der Straßenkante als Werbefläche kaufen.
    Noch konnte Ellen das Plakat nicht sehen, aber sie kannte es genau. Madonna war klein, trotzdem hatte sie es ganz nach oben geschafft. Das war für Ellen an vielen Tagen ein Ansporn. Mit ihren ein Meter sechzig besaß sie gerade die vorgeschriebene Mindestgröße für eine Bewerbung bei der Polizei. Damit war sie zwangsläufig dazu verdammt, lebenslang die Kleinste zu sein. Ein zusätzliches Handicap, das Ellen aber nur noch härter machte.
    Das Madonna-Plakat kam näher. Trotzdem wollten keine positiven Gedanken in Ellen aufkommen. Sie dachte einfach gar nichts. Sie fixierte starr den Fuß der Säule.
    Von einer Sekunde auf die andere änderte sich alles. Wie in extremer Zeitlupe sah Ellen eine Beule auf dem Gesicht von Madonna entstehen. Die Beule wuchs rasend schnell. Dann platzte sie auf. Steinbrocken und Pappe spritzten auf die Straße. Ellen wich hektisch aus. Zu schnell und zu plötzlich. In voller Fahrt knickte der Lenker weg, und sie stürzte auf die Fahrbahn. Die Säule verharrte einen Moment aufrecht, dann neigte sie sich zur Seite und kippte um. Genau neben Ellen schlug sie krachend auf den Boden.
    Vorsorglich schützte Ellen ihren Kopf mit den Händen. Ein paar Atemzüge lang blieb sie liegen und wartete, bis nichts mehr durch die Luft flog. Dann sprang sie auf. Dank ihrer Ausbildung hatte sie sich instinktiv so abgerollt, dass keine Knochen gebrochen waren. Die Haut abgeschürft, einige Kratzer, ein Haufen Prellungen, ihr T-Shirt eingerissen – das war alles. Ellen verschwendete keine Sekunde daran. Mit schnellen Blicken suchte sie die Umgebung ab. War irgendetwas verdächtig? Flüchtete ein Auto? Verhielt sich jemand seltsam? Nichts. Die üblichen Schaulustigen sammelten sich, Autos bremsten, weil die Straße versperrt war. Verletzt war anscheinend niemand. Die Schäden hielten sich in Grenzen.
    Dann sah Ellen das Paket. Es lag bei den Trümmern, die vom oberen Ende der Litfaßsäule stammten. »Für die Polizei«, stand in großen Lettern darauf.
    Eine Falle, durchfuhr es Ellen heiß. Eine

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