Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
08-Die Abschussliste

08-Die Abschussliste

Titel: 08-Die Abschussliste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
Vom Netzwerk:
schleichen. Aber zuvor holte sie sich den Käseschneider aus der Küche ihrer Mutter. Sie ersetzte den Draht durch eine Saite aus dem Klavier ihres Vaters. Die G-Saite unter dem mittleren C, glaube ich, die noch viele Jahre später fehlte. Sie traf sich mit dem Jungen und erdrosselte ihn.«
    »Sie hat was?«, sagte Joe ungläubig.
    »Sie hat ihn erdrosselt.«
    »Sie war erst dreizehn!«
    Lamonnier nickte. »In diesem Alter stellen die körperlichen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen kein ernsthaftes Hindernis dar.«
    »Sie war erst dreizehn und hat einen Kerl ermordet?«
    »Es war eine Ausnahmesituation.«
    »Was ist genau passiert?«, fragte ich.
    »Sie hat die Garotte benutzt. Wie sie es sich vorgenommen hatte. Das Werkzeug war nicht schwierig zu handhaben. Sie brauchte dazu nur Mut und Entschlossenheit. Dann hat sie den ursprünglichen Schneidedraht dazu benutzt, ihm einen großen Stein an den Gürtel zu binden und ihn in die Seine gleiten zu lassen. Er ist untergegangen, und sie war sicher. Die menschliche Eisenbahn war sicher.«
    Joe starrte ihn an. »Sie haben das geschehen lassen?«
    Lamonnier zuckte mit den Schultern. Ein vielsagendes, gallisches Schulterzucken, genau wie das unserer Mutter.

    »Ich wusste nicht, was sie vorhatte«, sagte er. »Sie hat es mir erst später erzählt. Instinktiv hätte ich ihr das wahrscheinlich verboten. Aber ich hätte den Verräter nicht selbst beseitigen können. Ich war doppelt beinamputiert. Ich verfügte über einen Mann, der gelegentlich Attentate für uns verübt hat, aber er war anderswo im Einsatz. In Belgien, glaube ich. Ich hätte nicht riskieren dürfen, seine Rückkehr abzuwarten. Deshalb hätte ich ihrem Vorhaben wohl letztlich zugestimmt. Es war eine Ausnahmesituation, und wir hatten wichtige Arbeit zu tun.«
    »Ist das wirklich passiert?«, fragte Joe.
    »Ganz sicher«, antwortete Lamonnier. »Der Stein hat sich vom Gürtel des Jungen gelöst. Die Leiche wurde einige Tage später flussabwärts angetrieben. Wir haben eine unruhige Woche verbracht. Aber die Ermittlungen verliefen im Sande.«
    »Wie lange hat sie für Sie gearbeitet?«, erkundigte ich mich.
    »Das ganze Jahr 1943 hindurch«, sagte er. »Sie war unglaublich gut. Aber ihr Gesicht wurde zu bekannt. Anfangs war es ihr bester Schutz. Es sah so jung und unschuldig aus. Wie hätte jemand ein Kind mit diesem Gesicht verdächtigen können? Dann wurde es jedoch zu einer Gefahr. Die Boches lernten es allmählich kennen. Und wie viele Brüder, Cousins und Onkel konnte ein einziges Mädchen haben? Deshalb musste ich sie von diesem Posten abziehen.«
    »Hatten Sie sie angeworben?«
    »Sie hat sich freiwillig gemeldet und keine Ruhe gegeben, bis ich sie aufnahm.«
    »Wie viele Leute hat sie gerettet?«
    »Achtzig Männer«, antwortete Lamonnier. »Sie war meine beste Pariser Helferin, ein Phänomen. Über die Folgen einer möglichen Festnahme durfte man gar nicht nachdenken. Sie hat ein ganzes Jahr mit dieser schrecklichen Angst gelebt, aber mich kein einziges Mal im Stich gelassen.«
    Wir saßen alle schweigend da.
    »Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?«, fragte ich.
    »Ich war Invalide«, sagte er. »Einer von vielen. Wir wurden
sofort aus der Gefangenschaft entlassen, weil unsere medizinische Betreuung zu aufwändig war. Als Zwangsarbeiter konnten sie uns auch nicht gebrauchen. Deshalb durften wir in Paris bleiben. Aber ich wollte etwas tun. Kämpfen ging nicht mehr, also organisierte ich. Das erfordert nur geistige Beweglichkeit. Ich wusste, dass ausgebildete Bomberbesatzungen Gold wert waren. Deshalb beschloss ich, ihnen zur Heimkehr zu verhelfen.«
    »Warum hat unsere Mutter uns nie von ihren Abenteuern erzählt?«
    Lamonnier zuckte wieder mit den Schultern.
    »Dafür hat’s viele Gründe gegeben, denke ich«, erklärte er. »Frankreich war 1945 ein Land im Zwiespalt. Viele hatten Widerstand geleistet, viele kollaboriert, viele weder das eine noch das andere getan. Die meisten wollten unbelastet einen Neuanfang wagen. Und sie hat darunter gelitten, den Jungen getötet zu haben. Ich habe ihr versichert, sie habe keine andere Wahl gehabt, ihr erklärt, sie habe damals richtig gehandelt. Aber sie wollte die ganze Sache lieber vergessen. Ich musste sie inständig bitten, ihren Orden anzunehmen.«
    Wir schwiegen.
    »Ich wollte, dass ihre Söhne es erfahren«, sagte Lamonnier.
     
    Summer und ich gingen zu Fuß ins Hotel zurück. Wir wechselten kaum ein Wort miteinander. Ich kam mir wie ein Mensch

Weitere Kostenlose Bücher