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08-Die Abschussliste

08-Die Abschussliste

Titel: 08-Die Abschussliste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Eisenbahnnetzes in den dreißiger Jahren. Das ganze erste Kapitel schien davon zu handeln, dass alle nordfranzösischen Bahnlinien nach Paris führten, um sich dort wieder nach Süden aufzufächern. Man konnte nirgendwohin reisen, ohne die Hauptstadt zu berühren. Das war nur logisch. Wie in den meisten Staaten Europas war in Frankreich alles auf die Hauptstadt ausgerichtet.
    Auf der hinteren Umschlagklappe entdeckte ich ein Foto des Verfassers. Es zeigte einen vierzig Jahre jüngeren Monsieur Lamonnier, den ich sofort wiedererkannte. Im Begleittext hieß es, er habe bei den Abwehrschlachten im Mai 1940 beide Beine verloren.
Ich erinnerte mich daran, wie steif er auf dem Sofa unserer Mutter gesessen hatte. Und an seine Krücken. Er ging offenbar auf zwei Prothesen. Was ich für knochige Knie gehalten hatte, mussten komplizierte mechanische Gelenke sein. Im Text hieß es weiter, er habe Le Chemin de Fer humain eingerichtet. Die menschliche Eisenbahn. Dafür war er mit dem französischen Résistance-Orden, dem britischen Georgskreuz und der amerikanischen Distinguished Service Medal ausgezeichnet worden.
    »Was?«, fragte Summer.
    »Anscheinend habe ich gerade einen alten Résistance-Helden kennen gelernt«, sagte ich.
    »Was hat das mit deiner Mutter zu tun?«
    »Vielleicht waren sie und dieser Lamonnier früher mal ein Liebespaar.«
    »Und das will er Joe und dir jetzt mitteilen? Was für ein großartiger Kerl er war? Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? Das ist ein bisschen egoistisch, oder?«
    Ich las im Text weiter. Wie viele ältere französische Bücher war dieses in der so genannten historischen Vergangenheit geschrieben, die für Ausländer schwer verständlich war. Der erste Teil der Story war nicht besonders spannend. Er schilderte umständlich, dass alle aus Norden ankommenden Bahnreisenden am Gare du Nord auszusteigen hatten. Wer nach Süden weiterreisen wollte, musste Paris zu Fuß, mit dem Taxi oder der Métro durchqueren, bevor er auf dem Gare d’Austerlitz oder dem Gare de Lyon einen Zug nach Süden besteigen konnte.
    »Hier geht’s um eine so genannte ›menschliche Eisenbahn‹«, erklärte ich. »Bloß kommen darin bisher nur sehr wenige Menschen vor.«
    Ich reichte das Buch Summer hinüber, die es erneut durchblätterte.
    »Es ist signiert«, sagte sie.
    Sie zeigte mir das Vorsatzblatt mit einer leicht verblassten alten Widmung. Blaue Tinte, deutliche Schrift. Dort stand: À Béatrice de Pierre. Für Béatrice von Pierre.

    »Hat deine Mutter Béatrice geheißen?«, fragte Summer.
    »Nein. Sie hat Josephine geheißen. Josephine Moutier, später Josephine Reacher.«
    Sie gab mir das Buch zurück.
    »Von dieser menschlichen Eisenbahn habe ich schon mal gehört«, sagte sie. »Das war eine Einrichtung im Zweiten Weltkrieg. Mit ihr wurden über Belgien und Holland abgeschossene Bomberbesatzungen gerettet. Dortige Widerstandszellen haben sie in Sicherheit gebracht und quer durch Frankreich bis nach Spanien geschleust. Von dort aus konnten sie heimkehren und wieder eingesetzt werden. Das war wichtig, weil ausgebildete Besatzungen wertvoll waren. Außerdem hat es diesen Leuten eine jahrelange Kriegsgefangenschaft erspart.«
    »Das wäre die Erklärung für Lamonniers Orden«, bemerkte ich. »Je einen von den westlichen Alliierten.«
    Ich ließ das Buch auf der Tagesdecke liegen und dachte ans Packen. Die im Samaritaine gekauften Klamotten - Jeans, Sweatshirt, Bomberjacke und Baskenmütze - würde ich wahrscheinlich hier lassen. Ich brauchte sie nicht. Wollte sie nicht haben. Dann fiel mein Blick erneut auf das Buch, und ich sah, dass in der Mitte mehrere dickere Blätter eingebunden waren. Sie entpuppten sich als Bildteil mit Schwarzweißfotos. Die meisten waren steife Atelieraufnahmen, die anderen heimlich im Einsatz gemachte Fotos. Sie zeigten alliierte Flieger, die bei Kerzenlicht in Kellern hockten, kleine Gruppen in geborgter Zivilkleidung auf einsamen Feldwegen und Flüchtlinge mit Bergführern in den schneebedeckten Pyrenäen. Eines dieser Fotos zeigte zwei Männer, die ein kleines Mädchen zwischen sich führten. Sie hielt die beiden Männer an den Händen gefasst und führte sie fröhlich lächelnd eine Großstadtstraße entlang. Bestimmt in Paris. Die Bildunterschrift lautete: Béatrice de service à ses travaux. Béatrice im Dienst, bei der Arbeit. Béatrice schien ungefähr dreizehn zu sein.
    Ich war mir ziemlich sicher, dass Béatrice meine Mutter war.
    Ich blätterte zu den Seiten mit

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