080 - Die Vampir- Oma und ihre Kleinen
hatte keine Macht mehr über die Kinder.
Zum erstenmal begriff Annie, welche Kreaturen sie nach dem Willen des Meisters geschaffen hatte. Der Blutgenuß hatte die Kräfte der Kinder noch verstärkt. Wozu würden sie erst in zehn, zwanzig Jahren fähig sein?
Ludwig Möller hatte seit langem einen bösen Verdacht. Erika, seine vermeintliche Tochter, war ihm unheimlich. Sie nahm sich zwar zusammen, war freundlich und höflich geworden, aber er wurde das Gefühl nicht los, daß hinter ihrem hübschen Gesicht ein Abgrund an Bosheit lauerte.
Seit er damals gesehen hatte, wie auf Erikas Befehl hin der Rektor reglos im Glutbereich der Flammen stand, wurde Möller den Zweifel nicht los.
Er hatte auch nicht vergessen, daß Erikas Lehrerin vor etwas mehr als einem Jahr bei lebendigem Leib qualvoll verbrannte, weil sie reglos stehenblieb, während doch ein einziger Schritt sie hätte retten können.
Als in den letzten Monaten keine bösen Ereignisse eingetreten waren, hatte Ludwig Möller schon aufgeatmet. Doch die Kindesentführungen fachten sein Mißtrauen von neuem an.
Er hatte gehört, daß Erika oft zu später Stunde in der Stadt gesehen worden war. Doch Möller hatte nie etwas darauf gegeben. Jetzt fing er an, Erika zu überwachen.
Als sie sich am Abend nach dem Aufruhr auf dem Marktplatz auf ihr Zimmer begeben hatte, ging Möller hinaus in den Garten. Er verbarg sich hinter der Hecke. Welche Kämpfe hatte es immer mit seinen anderen Töchtern gegeben, wenn sie ins Bett sollten. Ein kleines Mädchen, das freiwillig eine spannende Fernsehsendung versäumte, mußte etwas Besseres vorhaben, als zu schlafen.
Nach einer Viertelstunde sah Möller, wie der Rolladen von Erikas Fenster hochgezogen wurde. Im Zimmer war es dunkel. Eine kleine Gestalt stieg an der Wand zum Boden herab. Es war Erika. Sie huschte die Auffahrt hinunter, kletterte über das Tor.
Möller folgte ihr vorsichtig. Er schaute über die Mauer, die sein Grundstück umgab. Es war eine unbequeme Stellung, sich so an der Mauerkrone festzuhalten. Möllers Bauch scheuerte an dem Rauhputz. Seine zwei Zentner Lebendgewicht zogen an seinen Armen.
Auf der Straße wartete ein Junge auf Erika. Sie sprachen miteinander, aber Möller konnte kein Wort verstehen. Erstaunt sah er, wie der Junge ein paar feste Lederriemen aus der Tasche zog. Erika schlang die Arme um ihn. Der Junge band Erika auf seinem Rücken fest.
In diesem Augenblick fuhr einer von Möllers Lastwagen verspätet auf den Speditionshof. Die Scheinwerfer streiften über die Straße, als der Lastwagen in die Hofeinfahrt einbog. In ihrem Licht erkannte Möller den Jungen.
Natürlich war es einer dieser gräßlichen Bengels, Harald Finck oder Martin Roemer. Möller hörte die beiden miteinander sprechen. Er verstand deutlich den Namen „Harald“ und nahm an, daß es sich bei dem Jungen auf der Straße um Harald Finck handelte.
Warum hatte er bloß Erika auf seinem Rücken festgebunden?
Auf die Beantwortung dieser Frage sollte Möller nicht lange warten müssen. Er sah den Jungen die Arme rhythmisch bewegen. Dann erhob er sich plötzlich in die Luft wie ein Vogel, trug Erika mit empor.
Möller war so überrascht, daß er die Mauerkrone losließ und mit dem Hinterteil unsanft auf dem Boden landete. Er sah noch einen unförmigen Schatten vor den Sternen, dann waren die Kinder verschwunden.
Möller rannte zum Tor. Niemand war auf der Straße. Langsam ging er ins Haus zurück. Er trank zwei doppelte Kognak und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Es konnte doch unmöglich sein, was er gesehen hatte. Aber er hatte es gesehen.
Ein paarmal in der Nacht ging Möller in Erikas Zimmer und sah nach, ob sie schon zurück sei. Um zwei Uhr morgens lag sie friedlich schlummernd in ihrem Bett, das Gesicht im Schlaf entspannt, schön wie ein Engel. Doch als Möller genauer hinsah, erblickte er einen kleinen Flecken getrockneten Blutes an ihrem Mundwinkel.
Am nächsten Morgen war Möller mürrisch und aß nichts zum Frühstück, schüttete nur eine halbe Kanne schwarzen Kaffee hinunter. Dann ging er hinüber ins Büro der Spedition.
Frau Kattwitz, die Bürokraft der „Möller-Spedition“, erwartete ihn bereits mit der großen Neuigkeit.
„Wissen Sie schon das Neuste, Chef? Heute nacht ist wieder ein Baby verschwunden. Aus einem der Wohnblocks in der Savignystraße. Aus dem zehnten Stock. Die Tür war fest verschlossen, aber das Fenster stand offen, weil es so warm war. Als die Mutter
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