080 - Die Vampir- Oma und ihre Kleinen
schallend.
„Was glaubst du, wer deine Schauermärchen glauben wird? Ich habe Zeugen. Ich bin eine geachtete, angesehene Frau. Glaub nur nicht, daß ich leere Drohungen ausstoße, Roswitha. Wenn du dieses Haus verläßt, rufe ich die Polizei an. In der gleichen Minute.“
Roswitha sah die Frau an, die ihre Mutter war.
„Also gut“, sagte sie. „Ich werde bleiben. Doch wenn diese Untaten an neugeborenen Kindern weitergehen, dann gehe ich zur Polizei, ganz gleich, was daraus wird. Es war schlimm genug, daß du immer wieder auf die Säuglingsstation kamst und Gelegenheit fandest, deinen vampirischen Blutdurst zu befriedigen. Drei weitere Blutsauger in dieser Stadt, und seien es meine Kinder, darf es nicht geben.“
Annie wandte sich ab. Das Funkeln ihrer Augen verriet, daß sie keineswegs geneigt war, Roswitha nachzugeben. Im Moment konnte sie ihrer Tochter nichts anhaben, doch irgendwann würde Roswitha wieder in ihre Gewalt geraten. Vielleicht sollte sie dann die unbequeme Mitwisserin ein für allemal ausschalten?
Erika saß auf der Brücke und warf kleine Steinchen ins Wasser. Hinter ihr hielt ein Wagen. Sie hörte die Wagentür zuschlagen, Schritte sich nähern. Ein Schatten fiel über sie.
„Warum kommst du nicht mehr zu mir, Erika?“ fragte Annie Engelmann.
Das Kind sah weiter hinab auf das dunkle, schmutzige Wasser.
„Du hast uns verboten, Kinder zu rauben, Tante Annie. Ich fühle mich viel stärker und besser, seit ich Blut getrunken habe.“
„Erika, es ist zu gefährlich, glaub mir. Es muß erst Gras über die erste Entführung wachsen. Oh, warum habt ihr denn nicht gehorcht? Niemand hätte etwas gemerkt, wenn ihr das Kind zu mir gebracht hättet.“
„Pah, du mit deiner dummen Angst. Was wollen sie uns denn anhaben? Ich sage‚ Halt’, und sie stehen alle da wie die Steine und glotzen dumm.“
„Erika, Kind, die Menschen sind gefährlich.“
Es war bezeichnend, daß Annie von den Menschen sprach wie von einer fremden Rasse. Sie fühlte sich bereits ganz den Mächten der Finsternis zugehörig.
Erika ließ sie stehen. Sie ging einfach davon. Annie sah ihr nach. Böse Befürchtungen plagten sie. Erika, Martin und Harald waren doch noch Kinder. Böse, dämonische, weit über ihr Alter hinaus gereifte Kinder, aber eben Kinder. Wie sollten sie all ihre Feinde täuschen und in die Irre führen?
Am Abend hörte Annie Engelmann die neueste Schauergeschichte. Am hellichten Tag waren aus der Säuglingsstation zwei Babys aus ihren Bettchen entführt worden. Die Tür war verschlossen gewesen, nur ein Fenster hatte offen gestanden. Ein Fenster im vierten Stock an einer glatten Wand.
Während der ganzen Nacht suchten Polizei, Feuerwehr, eine in der Nähe stationierte Bundeswehreinheit und Männer und Frauen der Stadt, die Umgegend ab. Im Morgengrauen wurden die beiden Kinder auf einer Waldwiese gefunden. Sie hatten Bißwunden am Hals, waren völlig entkräftet und hatten viel Blut verloren.
Doch sie konnten gerettet werden. In der Stadt kochte es nun. Die tollsten Gerüchte kamen auf. Die Schlagzeile der Zeitung am nächsten Morgen lautete: „Vampir in der Stadt?“ Eine geschickt aufgemachte Reportage, mit Fotos und Interviews der betroffenen Eltern, schloß sich an. Die Bürger der Stadt waren mißtrauischer denn je, bis zur Weißglut gereizt.
Roswitha wußte von alledem nichts. Annie hatte ihr ein Schlafmittel in den Tee getan. Nun erpreßte Annie den gewissenlosen, trunk – und morphiumsüchtigen Dr. Marasch, Roswitha mit Spritzen und Drogen in einem Dämmerzustand zu halten. Längst schon hatte Annie das goldene Kreuz weggeworfen, das Roswitha schützen sollte.
Doch umbringen wollte sie ihre Tochter zumindest zu diesem Zeitpunkt, noch nicht. Außerdem ahnte sie, daß sie ihre ganzen dämonischen Zauberkräfte bald würde einsetzen müssen. Da konnte sie nicht Zeit und Kraft vergeuden, um Roswitha in einem Zauberbann zu halten.
Am Tag nach der Kindesentführung ging Erika in der Schule zu Rektor Karl Bauer. Sie knickste, wartete, bis er sie zum Sprechen aufforderte. Im letzten Jahr waren Erika, Martin und Harald in der Schule nicht mehr unliebsam aufgefallen. Die, die über ihr böses Treiben Bescheid wußten, wagten nicht zu reden.
Der Rektor war kein nachtragender Mann.
„Nun, Erika, was willst du von mir?“ fragte er freundlich.
„Ich wollte Ihnen sagen, Herr Rektor, daß wir vor drei Tagen den bösen Mann gesehen haben, der die kleinen Kinder geraubt
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