0803 - Meleniks Mordnacht
stets dämmrige und geheimnisvolle Innere, sondern mehr um den Außenbau. Um die Figuren an den Portalen, die zum Teil verwittert waren und von den Besuchern kaum wahrgenommen wurden, denn die interessierten sich zumeist für das Innere des Gotteshauses. Aber die Frau hatte eben von den Figuren gesprochen und dabei auch eine bestimmte gemeint.
Der Küster war einige Male an dieser Stelle vorbeigegangen. Sie lag am Nordportal der Kathedrale. Er hatte sich die mächtigen Säulen angeschaut, auf denen die Figuren standen, und er hatte dabei auch manch rätselhafte Inschrift entdeckt, wobei ihm besonders eine ins Auge gefallen war.
Sie musste wohl eine bestimmte Szene erklären, die im Stein darüber abgebildet war.
Da war ein Ochsenkarren zu sehen, auf dem ein sargähnlicher Gegenstand lag. Mit einem Sarg hatte der Gegenstand allerdings nicht viel zu tun, es war ein Behältnis, das auf dem Karren lag, der von zwei Ochsen gezogen wurde.
Ein wichtiger Behüter, der die Bundeslade enthalten sollte.
In Stein gehauen, stilisiert, aber auch falsch?
Daran wollte Cocard nicht glauben. Die Baumeister hatten schon gewusst, was sie taten und nicht grundlos diese Motive und Figuren geschaffen. Die Szenen beschäftigten sich mit dem alten Testament, ebenso wie die mächtige Skulptur des altisraelischen Priesterkönig Melchisedek, die ebenfalls am Nordportal der Kathedrale stand. Die Figur hielt einen durch einen Deckel verschlossenen Becher in seiner Hand. Wissenschaftler hatten sich damit beschäftigt und gemeint, dass es der Heilige Gral wäre, über den so viel geschrieben war. Angeblich sollte der Becher noch einen Stein enthalten, aber nachgeschaut hatte niemand.
Je mehr Cocard darüber nachdachte, umso unsicherer wurde er.
Hatte die Frau Recht gehabt? Hatte sie sich geirrt? Er hätte es gern gewusst, denn dass diese Kathedrale von geheimnisvollen Kräften durchwoben war, davon war er eigentlich immer ausgegangen.
Und Hugo Avide war von einer Hand erschlagen worden, die von einer der Figuren abbrach.
An diesem Abend saß er wieder in seinem Zimmer und dachte nach. Das kleine Fenster lag zum Garten hin. Der Wind bewegte die Zweige der Büsche. Manchmal schlugen die Spitzen gegen die Scheibe oder kratzten draußen über die Fensterbank.
Versonnen starrte der Mann ins Leere. Rätsel über Rätsel türmten sich auf, und er dachte ebenfalls an die Königin von Saba, die eigentlich nicht in die Reihe der Skulpturen hineinpasste, aber sie war am Nordportal abgebildet.
Warum?
Er stand auf.
Ziemlich heftig sogar. Die Tasse klirrte auf der Untertasse und wäre beinahe abgerutscht. Er fühlte sich berufen, dieses Rätsel zu lösen. Nicht grundlos hatte er in den letzten Tagen immer wieder darüber nachgedacht, sich auch mit Literatur versorgt, aber dabei nicht viel herausgefunden, denn in den kleinen Büchern wurde zumeist nur beschrieben und zu wenig erklärt.
Zusammen mit den anderen Bediensteten wohnte er in einem kleinen Haus auf dem Kirchengrundstück. Seine Kollegen befanden sich in ihren Zimmern. Wohl kaum einer würde das Haus jetzt noch verlassen, da machte Cocard die große Ausnahme.
Er ging nie ohne Kopfbedeckung. In seinem Fall war es die Baskenmütze, die er schräg auf seinen Kopf setzte. Das Haar verschwand darunter, und wenig später hatte er den dunklen Mantel übergehängt, denn es war draußen doch frisch.
Der kühle Abendwind streichelte sein Gesicht, als er ins Freie trat. Ein schmaler Weg, von Büschen umsäumt, führte vom Haus weg, und der Küster ließ ihn rasch hinter sich. Er warf einen Blick zum Himmel, der sehr dunkel war, denn das Licht der Gestirne wurde von breiten Wolkenbändern verborgen.
Er hatte es nicht eben eilig, dennoch lief er schneller als gewöhnlich. In ihm steckte eine Unruhe, die ihn antrieb wie ein Motor. Er wollte zum Nordportal der Kirche. Es kam ihm so vor, als stünde genau an dieser Stelle ein gewaltiger Magnet, der ihn anzog.
Es brannten nicht viele Lampen in der Nähe. Erst im Sommer, wenn die Touristen kamen, würde für eine bessere Beleuchtung gesorgt werden. Jetzt reichten die wenigen Lichter, denn wer hier herging, der kannte sich aus.
Die gesamte Umgebung wurde von der mächtigen Kathedrale überragt. Wo der Küster auch hinschaute, er konnte den Mauern nicht entgehen, und wenn er den Kopf noch höher anhob, dann gerieten die beiden Türme in sein Blickfeld, die wie breite, spitze Bleistifte in den dunklen Nachthimmel hineinragten.
Auch in der Finsternis bot
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