0803 - Meleniks Mordnacht
die Kathedrale ein gewaltiges Bild.
Manchen war sie ein Schutz, andere fürchteten sich auch vor ihr.
Besonders wenn die Glocken läuteten, lief vielen Menschen ein Schauer über den Rücken, doch zu dieser Zeit Waren sie still.
Überhaupt sah der Küster keinen Menschen. Er hörte nur die eigenen Schritte auf dem Pflaster, sah die Lichtflecken der Laternen wie schimmernde UFOs über dem Boden schweben und blieb ansonsten in der grauen Schwärze. Irgendwo bellte ein Hund. Das war dort, wo die Häuserzeilen begannen und die Einheimischen sich auf die Besucher freuten. Es gab Bistros und Kneipen.
Nahe der Kathedrale war es immer windig. Das hatte sich an diesem Abend auch nicht geändert. Obwohl die Baskenmütze fest auf seinem Kopf saß, hielt Cocard sie mit der flachen Hand, duckte sich und eilte weiter. Er wusste selbst nicht, weshalb er so schnell lief, er hatte im Prinzip alle Zeit der Welt und hatte sie trotzdem nicht, weil ihn sein Gefühl einfach vorantrieb.
Als er schließlich sein Ziel erreicht hatte, vor dem Nordportal stehen blieb, den freien Platz im Rücken, da musste er zunächst einmal tief durchatmen.
Ich merke doch mein Alter, dachte er und hoffte gleichzeitig, dass er sich nicht zu viel vorgenommen hatte.
Seine rechte Hand holte die Stablampe aus der Manteltasche. Er schaltete sie nicht ein, sondern ließ seinen Blick an der Fassade hoch schweifen, an der sich die Dunkelheit festgeklebt zu haben schien.
Das mit Figuren, Erkern, Simsen und kantigen Vorsprüngen verzierte Mauerwerk wurde an einigen Stellen von langen Bleiglasfenstern unterbrochen, die auch am hellen Tag nie viel Sonnenlicht durchließen, weil die Fenster zahlreiche religiöse Motive zeigten, künstlerisch wertvolle Adaptionen biblischer Szenen, auch farbig gestaltet, sodass viel Licht gefiltert wurde. Manchen Menschen kam das Innere der Kathedrale dann vor wie eine gewaltige Gruft, durch die die Schatten des Todes huschten und nur vom Licht der Kerzen vertrieben wurden.
Jeden Abend wurden frische Kerzen aufgestellt, und es war unter anderem eine Aufgabe der Küster, für Licht zu sorgen.
Der Küster ging einige Schritte zurück, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen.
Am Nordportal standen eben genau die Figuren, auf die es ihm ankam. Drei insgesamt.
Eine von ihnen, die in der Mitte, sollte die Königin von Saba darstellen. Sie stand auf dem Rücken eines geduckt dasitzenden äthiopischen Sklaven, wurde eingerahmt von zwei anderen Skulpturen, für die man nur zur Hälfte eine Erklärung hatte. Rechts von ihr sollte der König Salomon stehen, wer an der linken Seite seinen Platz gefunden hatte, darüber rätselten die Fachleute.
Aber Marie Avide hatte eben die Figur an der linken Seite gemeint. Ihre Augen hatten geglüht, und Cocard wollte nachschauen, ob das in dieser Nacht auch der Fall war.
Er ärgerte sich selbst darüber, dass sein Arm zitterte, als er die Lampe schwenkte. Er knipste sie an und ließ den Lichtarm an der dunkeln Mauer in die Höhe gleiten. Der breite Punkt erfasste den Sockel, auf dem die drei Figuren ihre Plätze gefunden hatten, und der Küster bewegte die Lampe zuerst nach links, wo er dann die Skulptur König Salomons anleuchtete.
Die stand da wie immer.
Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf. Einen Arm angewinkelt und die Hand flach gegen die Brust gedrückt.
Cocard war zufrieden, was sich bei ihm durch ein Nicken andeutete. Der Schein glitt an der Figur entlang in die Tiefe, er wurde geschwenkt und erwischte die mittlere der Steinfiguren.
Das war die Königin von Saba.
Für einige Sekunden schaute der Küster auf den geduckt dasitzenden Zwerg unter den Füßen der Königin, bevor er die hellen Arme der Gestalt entlang in die Höhe wandern ließ.
Die Figur der Frau war deutlich zu erkennen. Der Künstler hatte da ein kleines Meisterwerk geschaffen. Selbst die steinernen Gesichtszüge waren sehr weich modelliert worden und wirkten verträumt.
Diese Gestalt strahlte für Cocards Geschmack eine beruhigende Aura aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass von ihr eine Gefahr ausging, aber sie hatte Marie auch nicht gemeint.
Der Beobachter behielt das Ende des Lampenstrahls in Gesichtshöhe und schwenkte die Lampe erst nach einer Weile in die rechte Richtung. Der Kegel würde jetzt das Gesicht der dritten Figur erfassen, dessen Augen laut Marie Avide geleuchtet haben sollten.
Sie leuchteten nicht.
Es leuchtete überhaupt nichts, denn der Strahl erwischte keine dritte Figur, sondern nur das
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