0803 - Meleniks Mordnacht
schluckte. »Aha, verlassen.« Er verdrehte die Augen und fühlte sich wie jemand, der auf den Arm genommen werden sollte.
Hätte ein Gangster neben ihm gesessen, er hätte genau gewusst, was zu tun war. Bei dieser Frau aber konnte er so nicht reagieren.
Wenn sie irgendeine Krankheit hatte, war das nicht ihre Schuld. Er blieb trotzdem normal und fragte weiter. »Können Sie sich das erklären, Madame Avide?«
»Nein!«
Er grinste, ohne es zu wollen. »Also keine Erklärung, nicht?«
»Richtig.«
»Sie könnten mir natürlich den Platz zeigen, wo sich die Figur einmal befunden hat.«
»Das schon.«
»Sollen wir hingehen?«
Madame Avide schaute zu ihm hoch. Ihre Augen sahen aus als würde dunkles Wasser über die Pupillen rinnen. Die Lippen zuckten ebenso wie die dünne Haut am Kinn. »Sie sollten Acht geben«, sagte sie leise. »Es ist nicht ungefährlich.«
»Ja, das glaube ich Ihnen sogar.« Er reichte ihr den Arm. »Darf ich Ihnen helfen?«
Marie nickte. Sie ließ sich hochziehen. Nebeneinander gingen die beiden über den Platz, verfolgt von den Blicken der Mitarbeiter.
Der Inspektor bemerkte das Zittern der Frau. So ganz ruhig geworden war sie nicht, und er war gespannt, wie die Nordseite der Kathedrale an dieser bestimmten Stelle aussah.
Bisher hatte sich Gramur für Kirchen und deren schmückendes Beiwerk nicht interessiert. Er hatte es hingenommen, aber seine Sorgen waren das nicht. Dort, wo der Tote gefunden worden war, hatte sich eine helle Lichtinsel gebildet. Die Standscheinwerfer schickten ihre grellweißen Strahlen in die Finsternis. Die Mitarbeiter des Inspektors bewegten sich wie Geister durch die Helligkeit.
In der Nähe standen noch einige Gaffer. Marie wurde angesprochen, gab aber keinen Kommentar.
Als sie stehen blieb, konnten beide auf den Eingang schauen.
»Über ihm hat die Figur gestanden, Monsieur.«
»Als einzelne Skulptur?«
»Nein, in einem Dreierverbund.«
»Gut, dann müsste eine Lücke vorhanden sein.«
»Das denke ich auch.«
»Moment noch, Madame.« Gramur ließ die Frau stehen und sprach mit seinen Männern. Ein Standscheinwerfer wurde auf das Portal ausgerichtet.
»Jetzt werden wir es sehen, Madame.« Marie nickte. Sie war nervös. Ihre Finger zuckten, und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass alles anders war. Obwohl sie nicht in dem Licht stand, zwinkerte sie, als der breite Lichtbalken schräg in die Höhe glitt und die Figuren über dem Portal erwischte. Sie waren da.
Nicht zwei, sondern drei.
Und Marie verstand die Welt nicht mehr, als sie den Mörder an seinem Platz stehen sah…
***
Wir waren in Chartres eingetroffen, hatten unsere Zimmer belegt und uns anschließend getrennt, weil wir uns erst einmal ein Bild von der Stadt und natürlich auch von der Kathedrale machen wollten. Suko und Bill gingen gemeinsam, während ich allein blieb.
Es war ein Bauwerk, auf das jeder Baumeister hätte stolz sein können. Ich kam mir so zwergenhaft klein vor, als ich in der Nähe der Kathedrale stand und an ihr hochschaute. In einem Kiosk hatte ich mir ein kleines Buch gekauft und einiges über die Kathedrale gelesen. Mich interessierte in diesem Fall weniger die Geschichte und ihre Entstehung, sondern das Bauwerk jetzt, und es verfehlte seine Wirkung auf mich keinesfalls, als ich es langsam umwanderte.
Ich hatte die Kathedrale zuvor von innen gesehen und war seltsam berührt gewesen von den Spitzbogenfenstern mit dem Bleiglas, das Motive aus biblischen Geschichten zeigte und dafür sorgte, dass das Innere der Kirche von solch ungewöhnlichem Licht erhellt wurde. Ich hatte die Strebepfeiler, die Spitzbogen und die Wände betrachtet, die Harmonie bewundert.
Aus den Beschreibungen des kleinen Führers wusste ich, dass hier nichts dem Zufall überlassen worden war. Das gesamte Gebäude war nach großen religiösen Mysterien entworfen worden, man hatte im Muster der Fliesen geheime Botschaften versteckt, und die Baumeister mussten sich der Gematria bedient haben, einer althebräischen Form der Codierung, bei der die Buchstaben des Alphabets durch Zahlenwerte ersetzt wurden. So konnten gewisse Botschaften innerhalb eines Bauwerks versteckt werden, denn der hohe Klerus, zumeist Baumeister, wollte nicht, dass jeder Mensch derartige Botschaften verstand.
Jede Skulptur und jedes Fenster war ein kleines Kunstwerk. Man musste viel Zeit aufbringen, um sich mit diesen herrlichen Einzelheiten zu beschäftigen. Die Zeit hatte ich nicht. Es stellte mich schon zufrieden, einen
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