0813 - Der Schrecken vom Mekong-Delta
zu den Umkleiden traf sie Randy, einen weiteren Trainer, der sie anerkennend angrinste. »He, Chin-Li, nicht schlecht für den ersten Tag. Lass dir von Sandy nichts einreden. Sie hat selbst nur Schiss vor dem kleinen Wichser.«
Chin-Li nickte nur.
»Wir gehen gleich noch was trinken. Willst du mitkommen? Keine Sorge, wir beißen nicht.«
Der jungen Chinesin entging nicht der anerkennende Blick, mit dem Randy ihre Figur bedachte. Und auch Randy selbst zählte nicht gerade zu den hässlichsten Exemplaren seines Geschlechts.
Doch Chin-Li stand der Sinn nicht nach einem Techtelmechtel. Und vielleicht wäre auch Randy nicht ganz so euphorisch gewesen, wenn er gewusst hätte, dass die attraktive Chinesin vor ihm eine ehemalige Profikillerin war, die auf der Abschussliste der gefährlichsten Geheimorganisation Hongkongs stand.
Doch natürlich hatte Randy keine Ahnung davon, und das sollte auch so bleiben.
Chin-Li teilte weder ihr Leben noch ihre Geheimnisse mit anderen Leuten. Das war ihre eiserne Regel, von der sie nur sehr wenige Ausnahmen machte.
»Es war ein harter-Tag. Vielleicht ein andermal«, sagte sie mit der Andeutung eines Lächelns. Doch sie wusste genau, dass dieser Tag nie kommen würde.
***
Chin-Li zog die Jacke enger zusammen, doch der dicke Stoff half kaum gegen die schneidende Kälte. In Momenten wie diesen vermisste sie die tropische Wärme Hongkongs ganz besonderes. Doch es gab kein Zurück mehr. Nicht, seit sie sich mit der Hilfe Professor Zamorras von ihrem alten Leben als Profikillerin losgesagt und der Bruderschaft der Neun Drachen den Rücken gekehrt hatte.
Nach ihrer Flucht aus Hongkong hatte sich Chin-Li zunächst in Los Angeles ein neues Leben als Sicherheitschefin einer Import/Exportfirma aufgebaut. Doch ihr Chef Patrick Lau hatte sich als ein Diener des Götterdämons Kuang-shi entpuppt, der die Welt in ein Ebenbild seines mythischen Vampirreichs Choquai verwandeln wollte. [1]
Nachdem Zamorra den Vampirdämon mit Hilfe von Fu Long zurück in den tiefen Schlaf geschickt hatte, hatte sich Chin-Li noch eine Weile mit dem Silbermond-Druiden Gryf getroffen. Doch beide waren sie viel zu eigenbrötlerisch, um sich auf eine feste Beziehung einzulassen. Also war Gryf in seine einsame Hütte auf der Insel Anglesey im Norden von Wales zurückgekehrt, und Chin-Li war nach Boston gegangen, um ein unauffälliges Leben außerhalb des Machtbereichs der Neun Drachen zu führen.
Sie hatte eine kleine, bezahlbare Wohnung gefunden und war schließlich sogar in der Golden-Dragon -Sportschule untergekommen, wo sich niemand groß für ihre Vergangenheit interessierte. Alles lief perfekt - bis jetzt.
Die Ex-Killerin wusste, dass ihre Hoffnungen auf ein friedliches Leben vergeblich gewesen waren, als sie ihren Verfolger bemerkte. Es war ein junger Chinese, kaum älter als 25, mit schlabbrigen HipHop-Klamotten und modischem Kinnbart. Ihr Schatten war sorgsam darauf bedacht, genug Abstand zu ihr zu halten, um nicht aufzufallen. Er war gut, ein echter Profi - aber nicht gut genug.
Die Straßen waren um diese Zeit nicht allzu belebt. Der Fremde ließ sich noch weiter zurückfallen. Chin-Li ließ sich keine Sekunde anmerken, dass sie ihren Verfolger bemerkt hatte. Zügig, aber nicht hastig ging sie weiter, während sie kühl ihre Optionen analysierte.
Kuang-shis Truppen waren vernichtet. Doch es war nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Verfolger um einen Tulis-Yon handelte, der sich für die Niederlage seines Herrn rächen wollte. In diesem Fall hatte sie kaum eine Chance. Doch Chin-Li glaubte nicht daran. Selbst wenn ein paar der Wolfskrieger überlebt hatten, waren sie in alle Winde zerstreut und leckten ihre Wunden. Also war der Chinese vielleicht ein einfacher Straßendieb, der auf ein hilfloses Opfer lauerte, das er ausrauben konnte. Aber dafür war der Typ zu professionell. Auf der Straße lernte man so etwas nicht.
Also blieb nur noch eine Möglichkeit. Die Bruderschaft der Neun Drachen hatte sie aufgespürt. Chin-Li hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, aber sie hatte gehofft, dass es nicht so bald sein würde.
Der Schlabberlook kaschierte kaum den durchtrainierten Körper ihres Verfolgers. Jede seiner Bewegungen verriet den erfahrenen Kämpfer. Bisher war sie noch niemandem begegnet, der es im Nahkampf mit ihr hätte aufnehmen können. Doch sie hütete sich davor, ihren Gegner zu unterschätzen.
Aber in einem Krieg kam es nicht nur auf Kraft und Technik an. Im Kampf führt das
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