0813 - Der Schrecken vom Mekong-Delta
wahrscheinlich auch dein letzter.«
Die Augen des Jungen blitzten herausfordernd. Er war zwei Köpfe größer als Chin-Li und strotzte vor Kampfeslust. Schnell rief die junge Chinesin alle Informationen ab, die sie über den jugendlichen Rowdy hatte. Er hieß Mike und kam aus schwierigen familiären Verhältnissen. Der Vater soff, und die Mutter war eine Schlampe, die es mit jedem trieb, der ihr ein paar Dollar zusteckte. Das Jugendamt hatte Mikes Kung-Fu-Unterricht ausdrücklich begrüßt, da er seine Persönlichkeit fördern und sein Selbstbewusstsein stärken würde.
Chin-Li sah das etwas anders. Hier lernte Mike nur das, was er brauchte, um anderen auf der Straße Angst und Schrecken einzujagen. Wenn er so weitermachte, war er in wenigen Jahren im Knast. Oder tot.
Er brauchte dringend eine Lektion.
»Ich will Paul zurück! Frauen können überhaupt kein Kung-Fu.«
Paul war Chin-Lis Vorgänger in der Kampfsportschule Golden Dragon gewesen, und er war der Einzige, dem Mike etwas Respekt entgegengebracht hatte. Der Junge hatte in seinem Lehrer eine Art Ersatzvater gesehen. Doch jetzt war Paul zu seiner Freundin nach New York gezogen.
Gut für ihn. Schlecht für Mike.
»Verbeuge dich!«
»Was?«
»Verbeuge dich vor deinem Gegner. So ist es Tradition. Und dann mach deinen ersten Schlag.«
Auf dem Gesicht des Jugendlichen erschien ein gemeines Grinsen. »Ich mach dich fertig, Pussy!«, zischte er.
Die beiden verbeugten sich. Die anderen Lehrer und Schüler, die in dem Raum trainierten, hatten längst ihre Übungen unterbrochen und sich in einem großen Kreis um die Trainingsmatten versammelt. Man konnte die Spannung in der Luft fast körperlich spüren.
»Ich mach dich fertig«, wiederholte Mike. Er wirbelte herum, riss seinen Fuß hoch - und trat ins Leere.
Sei wie das Wasser, hatte Bruce Lee gesagt. Leere deinen Kopf. Sei formlos, körperlos wie Wasser. Und Chin-Li war wie Wasser. Mit einer fließenden Bewegung wich sie der plumpen Attacke aus. Wasser kann fließen, oder es kann stürmen. Bevor Mike wusste, wie ihm geschah, schlug Chin-Li zurück und attackierte ihn mit einer präzisen Abfolge aus Tritten und Schlägen. Mit Genugtuung sah sie das Entsetzen, das sich im Gesicht ihres jugendlichen Gegners ausbreitete.
Und dann gab sie ihm den Rest. Chin-Li wirbelte Mike durch den Raum, schleuderte ihn auf den Rücken und presste ihn mit einem eisernen Griff gegen die harte Matte.
»Chin-Li! Hör auf!« Die junge Chinesin ignorierte die schrille Frauenstimme.
»Gibst du auf?«
»Niemals!«
Chin-Li verstärkte den Griff. »Wenn ich so weitermache, bricht dein Arm in weniger als 30 Sekunden. Mit etwas Glück bekommen die Ärzte ihn wieder hin. Wenn deine Eltern krankenversichert sind. Aber es wird sehr, sehr schmerzhaft. Gibst du auf?«
Stolz und Panik rangen in dem Jungen miteinander, und schließlich nickte er. Sein Gesicht war schweißnass, und seine Augenlider flackerten. »Verdammt, ja. Du hast gewonnen!«
»Gut.« Sofort löste Chin-Li den Griff und zog den Jungen zu sich hoch, bis sein Ohr direkt an ihrem Mund war. »Und noch etwas: Wenn du mich noch einmal Pussy nennst, bringe ich dich um!«
Verstört starrte der minderjährige Rowdy die Chinesin an. »Ich werde es nie wieder tun«, krächzte er.
»Dann ist es ja gut. Die Lektion ist beendet. In einer Woche machen wir genau da weiter.« Lächelnd sah Chin-Li zu, wie Mike wie ein begossener Pudel davontrottete. Wenn er nächste Woche tatsächlich wiederkam, würde sie anfangen, seine verkorkste Persönlichkeit mit der wahren Philosophie des Kung-Fu vertraut zu machen. Vielleicht war seine junge Seele noch nicht endgültig verloren…
»Chin-Li, bist du wahnsinnig?«
Gelassen wandte sich die junge Chinesin der Frau zu, der die schrille Stimme gehörte. Sandy Hanson war ebenfalls Kung-Fu-Lehrerin, und offenbar war sie mit Chin-Lis pädagogischen Ansätzen nicht ganz einverstanden. »Du hättest ihn verletzen können!«
»Es war seine Entscheidung. Er muss lernen, dass jede Aktion eine Gegenaktion hervorruft. Sonst kann ihn seine Dummheit eines Tages umbringen. Die Gegner auf der Straße sind nicht so nachsichtig wie ich.«
»Nachsichtig? Du hast ihn grün und blau geschlagen! Mein Gott, er ist noch ein Kind…«
»… das dringend etwas Demut braucht! Wann soll er sie lernen, wenn nicht jetzt? Ihr Amerikaner seid einfach zu weich!«
Chin-Li griff sich ihre Sporttasche und ließ Sandy stehen, die ihr wortlos hinterher starrte. An der Tür
Weitere Kostenlose Bücher