0815 - Die Höllenbestie
Dann kannst du mir erzählen, was geschehen ist.«
Jake nickte.
Er schaute auf das Meer, und Amy stellte fest, dass sich ein Schauer auf seinem Körper bildete. Vor und zurück bewegte er seine Handflächen über die Knie hinweg, schluckte einige Male, trank dann einen Schluck Wasser aus der Flasche, die ihm seine Mutter aus der Kühlbox gereicht hatte, und sagte: »Ich habe ihn gesehen.«
»Wen hast du gesehen?«
»Mich selbst.«
Amy schluckte. Jetzt hatte sie Mühe, ein Zittern zu unterdrücken.
Sie hielt die Sonnenbrille fest, als hätte sie Furcht davor, ihre Augen zeigen zu müssen. »Noch einmal, bitte. Wen genau hast du gesehen?«
»Mich, Mutter.«
»Das kann nicht sein.«
»Doch.«
Amy wusste, dass es sein konnte, aber sie wollte es nicht bestätigen. Deshalb bat sie: »Bitte, Jake, ich möchte, dass du es erzählst.«
»Und wie, Mum, und wie.« Er achtete nicht auf seine Mutter, sondern war mit sich selbst beschäftigt, was Amy zupass kam, denn er sollte nicht sehen, wie blass sie geworden war.
Ihr Urlaub war vorbei. Zumindest die Stimmung, denn die Vergangenheit hatte sie eingeholt. Schon vor drei Jahren in dem italienischen Restaurant hatte sie sich vorgenommen, mit ihm zu reden, es aber verschoben, weil ihr Jake damals noch zu jung erschien und sie auch irgendwie feige war.
Nun sah die Sache anders aus. Da war sie wohl gezwungen, ihm die Karten offen auf den Tisch zu legen.
Zuerst hörte sie zu.
Jake war noch immer erregt. Dieser schreckliche Vorgang hatte ihn sehr beeindruckt, er sprach stockend, redete auch mit Händen, bewegte dabei seine Füße durch den weichen Sand, und kam nicht umhin, verschiedene Sätze mehrmals zu wiederholen.
Amy schwieg die meiste Zeit. Hin und wieder strich sie ihrem Sohn über die Wange, als wollte sie ihn beruhigen. Schließlich hatte er seinen Bericht beendet und wartete darauf, dass seine Mutter einen Kommentar dazu gab.
Amy schwieg zunächst.
Es gefiel Jake nicht, denn er fragte: »Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja, ich habe dir zugehört.«
»Und? Was sagst du? Glaubst du mir denn?«
»Ja.«
Es erstaunte ihn, denn Jake hatte irgendwelche Ausflüchte erwartet. Die Konsequenz seiner Mutter ließ ihn schon nachdenklich werden, und er musste schlucken, weil ihm die nötigen Worte fehlten.
Schließlich fragte er: »Wenn du mir so glaubst, hast du denn auch eine Erklärung für das alles?«
»Ich suche danach.«
»Also gibt es eine.«
Amy Lester senkte den Kopf. »Ja, es gibt eine Erklärung, mein Junge, und sie ist nicht eben positiv.«
»Welche denn?«
»Dieser Junge hat so ausgesehen wie du?«
»Richtig. Ich habe mich nicht geirrt.«
»Nein«, murmelte sie und schüttelte dabei den Kopf. »Du hast dich wirklich nicht getäuscht. Es… es gibt diese Person. Es gibt sie ebenso, wie es dich gibt. Ich bin ebenso seine Mutter, Jake, wie ich deine bin. So Leid es mir für dich tut.«
Jake begriff schnell. Er flüsterte: »Ich… ich habe tatsächlich einen Bruder?«
»Sogar einen Zwillingsbruder. Wir hatten vor, ihn Jory zu nennen, dein Vater und ich.«
»O Gott«, stöhnte er, »das kann doch nicht wahr sein. Das… das stimmt nie und nimmer – oder?«
»Leider ist es wahr.«
»Aber warum…?«
»Bitte, Jake.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das ist eine sehr lange Geschichte.«
»Weiß ich, Mum. Aber ich habe Zeit. Wir haben Zeit. Willst du sie mir nicht erzählen?«
»Jetzt?«
»Ich warte darauf.«
Amy Lester lehnte sich zurück. Sie wollte nur für einen Moment die Augen schließen, um die Gedanken zu sammeln. Es wurde eine Minute daraus.
»Willst du nicht, Mummy?«
»Doch, mein Junge, ich will. Es ist nur nicht einfach für mich. Es gilt, einen großen Bogen zu spannen, und da habe ich erst mal nachdenken müssen.«
»Wo fängt die Geschichte denn an?«
»Mit deiner Geburt.«
»Wirklich?«
»Und mit dem Tod deines Vaters, Jake…«
Was die beiden in der folgenden Stunde zu besprechen hatten, blieb unter ihnen. Es gab keine Zuhörer, und diese schrecklichen Dinge gingen auch nur sie beide etwas an…
***
Gegenwart
Amy Lester stand auf. Sie ging mit schwankenden Schritten auf die kleine Hausbar zu, wo sie sich ein Glas holte und eine winzige Flasche mit einem Magenbitter. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Jake Lester stand auf und stützte seine Mutter ab. Wie er das tat, ließ auf eine große Fürsorge schließen, die er für diese Frau empfand. Zwischen beiden Menschen war das Band sehr
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