0818 - Lilith, der Teufel und ich
er kein Mörder war. Er hatte keinen Menschen umgebracht. Diese Tat hatte wie eine Hinrichtung ausgesehen. Das hatte ihm der Kollege Gericke, ein guter Bekannter, erzählt.
Es brachte nichts, wenn er sich den Kopf zerbrach. Er war da in eine Falle getappt. Er sollte für einen anderen die Schuld auf sich nehmen.
Harry starrte auf das Bett. Eine graue Decke, die auf der bloßen Haut kratzte, bildete die obere Lage. Das schmale Kopfkissen sah aus wie ein Wulst. Die Toilette in der anderen Ecke hatte keinen Deckel. Nur die Schüssel mit der Holzbrille darauf. Darüber das Fenster. Das war die Einrichtung für einen Mörder, aber nicht für ihn. Es war zum wahnsinnig werden.
Von draußen hörte er kaum Geräusche. Und wenn, dann erschienen sie ihm weit entfernt. Ihn hatte man in einer bedrückenden Stille zurückgelassen.
War es wirklich still?
Er überlegte, und ihm fiel ein, dass er schon einige Male das seltsame Geräusch gehört hatte.
Kugeln, die über den Boden rollten und gegeneinander klackten.
Aber nicht sichtbar, vielleicht nur in seiner Erinnerung oder Vorstellung? Tatsächlich nicht wahr und…
Wieder – ja, jetzt wieder!
Der Kommissar war in der Mitte der kleinen Zelle stehen geblieben. Nie zuvor hatte er dieses Geräusch so deutlich gehört. Es befand sich in seiner unmittelbaren Nähe, als würde es dicht an seinen Ohren entlangschleifen.
Es war nicht unten, es war nicht oben, es war zwischen Boden und Decke.
Die Kugeln, die Tränen…
Wieso Tränen? Warum kam er immer wieder auf diesen Begriff zurück, der eigentlich mit den entsprechenden Lauten nichts zu tun hatte? Das musste einen Grund haben.
Stahl dachte nach. Er konzentrierte sich, er wollte sich von dem klackenden Hin und Her nicht länger ablenken lassen. Die Hände hatte er zu Fäustengeballt. Seine Hände waren feucht geworden.
Vom Schweiß bedeckt war auch sein Hals.
Warum dieses Geräusch?
Weshalb die Erinnerung?
Es hatte etwas mit ihm zu tun, mit seiner angeblichen Tat. Dies kam bei ihm immer mehr durch, und er war wütend über sich selbst, dass es nicht zu einem Ergebnis reichte.
Der Kommissar drehte sich auf der Stelle. Er wollte möglichst die gesamte Zelle überblicken können, denn er ging einfach davon aus, dass er nicht mehr allein war.
Jemand oder etwas belauerte ihn.
Aber was?
Kugeln, die klackten. Tränen, an die er immer wieder denken musste, obwohl Tränen aus Wasser bestanden und nicht aus einem festen Material wie Kugeln.
Etwas stimmte hier nicht. Es war alles durcheinander, doch die Geräusche blieben.
Mal lauter, mal leiser. Mal rollten die Tränen schneller, dann wieder langsamer, immer öfter von gewissen Unterbrechungen durchbrochen. Harry kam damit nicht mehr zurecht. Dieser unheimliche Vorgang zerrte an seinen Nerven.
»Verdammt noch mal!« keuchte er. »Zeigt euch doch! So zeigt euch doch endlich!« Er ging zurück und ließ sich auf das Bett fallen.
Die Matratze gab unter ihm nach, und sie quietschte, als wollte sie gegen den Druck protestieren.
Zwar bewegte sich sein Körper nicht, doch den Kopf konnte er einfach nicht ruhig halten. Er sah wie ein Zuschauer beim Tennisspiel, der den Ball verfolgt, wenn er von einem Feld ins andere geschlagen wird. Das Rollen und Klacken tanzte von einer Ecke des Zimmers in die andere, er konnte sogar die Linien verfolgen, die die Kugeln liefen, gerade und schräg, und plötzlich sah er die hellen Spuren auf dem grauen Fußboden. Es war für Harry wie ein Wunder, von dem er sich nicht fürchtete. Obwohl der Vorgang nicht zu begreifen war, fürchtete er sich nicht, weil er einfach darauf hoffte, die Lösung oder zumindest einen Teil davon präsentiert zu bekommen.
Er hockte steif auf der Bettkante. Die Handflächen hatte er zusammengelegt. Hin und wieder rieb er sie gegeneinander. Die dabei entstehenden leisen Geräusche konnten die anderen keineswegs unterdrücken, dieses Klicken war viel lauter, und die Spuren der Perlen wirkten auf ihn wie dünne, schaumige Wasserstreifen.
Harry war fasziniert und gespannt. In den ersten Sekunden ließ er sich von der Tatsache, dass die Kugeln da waren, ablenken, dann aber stellte er fest, dass die Tränen mit ihren Streifen nach einem bestimmten Muster liefen.
Es entstand eine Figur.
Ein Pentagramm!
Harry Stahl zwinkerte. Er sah noch keinen Sinn darin, bis er plötzlich innerhalb dieser großen Figur die Nebelspirale entdeckte, die sich um die eigene Achse drehte. Sehr schnell und sich dabei immer mehr verdichtend.
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