082 - Die Geisterkadetten
die Richtung des Dorfes. Wie ein Tiger auf der Jagd bewegte sich die schlanke Gestalt etwas später durch den dunklen, schlafenden Ort. Nur aus einem Haus drang noch Lärm, Musik und Gelächter. Jeanne preßte ihr Gesicht an eines der erleuchteten Fenster und spähte hinein.
In dem zweiten Gasthaus des Ortes, dem »Faß«, herrschte noch zu dieser späten Stunde ein lebhaftes Treiben. Auf der kleinen Tanzfläche des rauchigen Saales bewegte sich beim Lärm zweier Akkordeons junges Volk im Tanz.
Claude Perichard, 27 Jahre und Sohn des reichsten Mannes im Ort, hatte an diesem Tage promoviert, und das mußte natürlich gefeiert werden. Der frischgebackene Doktor jur. schmiß eine Runde nach der anderen.
Claude ließ sich auf eine mit klebrigem Kunstleder überzogene Bank fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war das, was man .ziemlich blau’ nennt.
»Noch eine Runde Calva«, rief er dem dicken Wirt zu, der mit einem schmierigen, feuchten Lappen über den Marmortisch fuhr.
»Unser Doktor soll leben!« brüllten die jungen Männer, und das Gelächter der Mädchen drang durch den infernalischen Lärm der Akkordeons.
Eilfertig schleppte der Wirt ein volles Tablett heran. Er verteilte die dicken, flachen Gläser mit minderwertigem Calvados, der nach verfaulten Äpfeln und Brennspiritus roch.
Claude Perichard hob sein Glas und stürzte den Fusel mit einem Zug hinunter. Als er das Glas absetzte und in dem trüben Spiegel an der Wand sein aufgelöstes Gesicht erblickte, empfand er einen derartigen Ekel, daß er nicht mehr hinsehen konnte.
Er erhob sich unsicher und rief: »Ruhe! Alle mal herhören!«
Die Musik war so laut, daß er noch einmal brüllen mußte.
Mit einem tiefen Baßton hörten die Akkordeons auf zu spielen, und im nächsten Augenblick trat Stille ein.
»Leute, ich mache euch einen Vorschlag. Wir machen gemeinsam noch einen kleinen Spaziergang.«
»Bravo. Gute Idee.« In die Beifall spendenden, dunkleren Töne der jungen Männer mischten sich die übermütigen Stimmen der Mädchen.
»Ich gehe nur, wenn wir ein paar Flaschen mitnehmen«, rief Charles Garvices, ein Bursche mit schmalen Hüften und breiten Schultern, der als Frauenheld bekannt war.
»Hol dich der Teufel, du bockbeiniger Esel, das ist Erpressung. Aber von mir aus.« Claude Perichard zuckte mit den Achseln. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander.
Sie verstauten noch einige Flaschen in ihren Jacketts.
»Schreib alles auf eine Rechnung«, rief der junge Doktor dem Wirt zu. Die fröhliche Schar quoll durch die Kneipentür ins Freie.
Auf der Straße fanden sie sich automatisch paarweise zusammen.
Ein Mädchen, das im Schatten des Hauses gestanden hatte, mischte sich unter sie und hängte sich bei Claude ein.
Schwatzend und lachend verließen sie das Dorf. Ab und zu blieb eines der Paare stehen tauschte einen heißen Kuß oder nahm einen Schluck aus der Flasche. Schritt für Schritt wanderten sie durch das taufeuchte Gras zur Vezere hinunter. Fahlgelb hing der Mond über ihnen, und in den schwarzen Räumen zwischen den unzähligen Sternen glänzte es zart und silbrig.
Claude und seine Partnerin waren die letzten. Ihre Schuhe wischten unermüdlich durch das nasse Gras. Das Mädchen hatte kein Wort gesprochen, seit sie sich ihm angeschlossen hatte. Als sie jetzt den Fluß erreichten, löste sie sich aus seinen Armen, lief ein Stück vor und legte sich in den weichen Sand des Ufers.
»Claude!« rief sie.
Der junge Mann schien sie nicht zu hören. Seine Augen lagen auf dem hohen Felsen, der in kurzer Entfernung emporragte und auf dessen Spitze undeutlich die dunkle Fassade des Gasthofes .Chateau’ zu erkennen war. Für einen Augenblick starrte Claude wie gebannt auf das Haus, das dort oben still und einsam lag. In seinem trunkenen Hirn tauchte die Erinnerung daran auf, daß man Georges Fresnac, den man für den Mörder der Zigeuner hielt, heute gefunden hatte.
Plötzlich hörte Claude wieder seinen Namen rufen.
Langsam schritt er zu dem im Sand liegenden Mädchen. Erst jetzt erkannte er sie. Jeanne Fresnac, die Tochter des Wirts vom Chateau.
Jeanne war doch bei der Fete gar nicht dabeigewesen. Früher hatte er gerne ihre Gesellschaft gesucht, aber jetzt hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen.
»Jeanne«, murmelte Claude verwirrt und mit schwerer Zunge. »Wie kommst du denn hierher?«
»Ist doch egal, Claude. Komm her zu mir.« Jeanne Fresnac hatte ihr Gesicht abgewandt. Ihre Stimme klang so merkwürdig,
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