082 - Die weisse Frau
demonstrativ zu und hielt es fest.
„Das ist wohl nicht nötig“, sagte er.
In diesem Moment haßte sie ihn wieder. Sie wußte nicht, ob er ihr etwas vorspielte oder ob dies der echte Dr. Lohmann war.
„Geben Sie mir das Buch! Sofort!“
Er blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an und tat so, als könnte er nicht bis drei zählen. „Nein. Das werde ich nicht tun. In diesem Haus ist ein Mord geschehen, und ich möchte herausfinden, ob Sie die Mörderin sind.“
Anne Bloom war es, als hätte er ihr die Faust in den Magen geschlagen.
„Sie sind ja verrückt!“
„Bin ich das?“
Ihr stiegen Tränen in die Augen. Und in ihrem Zorn ließ sie sich zu einer Bemerkung hinreißen, die sie im nächsten Moment schon wieder bereute.
„Und wenn ich die Mörderin wäre, Dr. Lohmann, dann würde ich mich an Ihrer Stelle vorsehen. Heißt es nicht, wer einen Mord begeht, der begeht auch einen zweiten?“
Er erhob sich, klemmte sich das Buch unter den Arm und stolzierte zur Tür. Die Hand auf dem Türgriff, drehte er sich noch einmal um.
„Ich hoffe, meine Liebe“, sagte er triumphierend. „ich hoffe, Sie sind sich klar darüber, daß Sie soeben ein Geständnis abgelegt haben.“
Er legte den Kopf zurück. Seine Brillengläser reflektierten das Sonnenlicht, so daß sie seine Augen nicht mehr sehen konnte.
„Sie sind ein Teufel, Lohmann“, zischte sie leise.
Er drohte ihr scherzhaft mit dem Finger, aber sie war nicht in der Verfassung, entsprechend zu reagieren.
„Warten Sie nur, meine Liebe! Vielleicht bin ich wirklich der Teufel und erscheine Ihnen heute nacht voller Lüsternheit.“
Er kicherte, so wie der schwachsinnige Keschmer es getan hatte.
Anne Bloom zitterte am ganzen Leib. Die Zigarette entfiel ihren Fingern. Sie bückte sich, um sie wieder aufzuheben, mußte aber mehrfach zugreifen, ehe sie die Zigarette endlich zu fassen bekam, und dann zerbrach sie.
Anne vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie hatte sie sich nur von Lohmann so in die Enge treiben lassen können! Ihre Situation hatte sich arg verschlimmert.
Die polizeilichen Untersuchungen dauerten bis in den späten Nachmittag hinein. Anne Bloom wurde nicht, wie erwartet, noch einmal verhört. Man schien sie vergessen zu haben. Gerade das aber machte sie nervös. Sie wußte nicht, was Dr. Lohmann von ihren unbedachten Worten weitergegeben hatte.
Der Abend war trübe. Nebelschwaden umhüllten das Schloß. Kommissar Wahlgahn und Frau von Stöckingen hatten noch immer nicht klar dargestellt, was wirklich geschehen war. So glaubten die Schülerinnen nach wie vor an einen Unfall.
Anne Bloom bemerkte, daß Dr. Lohmann das Gespräch mit den Untersuchungsbeamten suchte. Er gesellte sich mal zu Wahlgahn, mal zu Daub, je nachdem wer gerade frei war.
Die Englischlehrerin war froh, als Dr. Schwab endlich zu ihr kam, sich unbeschwert bei ihr einhakte und sie bat, einen kleinen Spaziergang durch den Park mit ihm zu machen.
„Der Lohmann erlebt seine große Stunde“, erzählte er. „Dummerweise nimmt Wahlgahn ihn nicht ganz ernst.“
„Was steht in der Chronik?“ fragte Anne.
„Ich weiß es nicht. Und – ehrlich gesagt – es interessiert mich auch nicht sehr. Ich bin … Oh, das tut mir leid! Ich wollte …“
Sie entzog ihm ihren Arm.
„Sie glauben mir also auch nicht“, sagte sie enttäuscht. „Sie meinen, ich hätte diese weiße Frau nur erfunden.“
„Lassen Sie uns vernünftig miteinander reden“, schlug er vor.
Aber sie schwieg trotzig. Schweigend gingen sie nebeneinander her durch den Nebel. Im Park kannten sie sich beide gut aus. Sie waren oft genug allein oder auch gemeinsam hier spazierengegangen. Als sie bei dem Rhododendronquadrat vorbeikamen, trafen sie Lydia von Hellwangen, eine besonders begabte Schülerin. Das braunhaarige Mädchen blickte überrascht auf, als sie Anne Bloom und Dr. Schwab sah. Anne wußte, daß sie eine glühende Verehrerin des Mathematiklehrers war. Dr. Schwab hatte wieder ihren Arm erfaßt. Jetzt ließ er ihn los. Vor einer Minute noch hatte Anne sich gegen die Berührung gesträubt, nun mißfiel ihr, daß er sich von ihr löste, nur damit Lydia es nicht sah.
„Du bist ganz allein, Lydia?“ fragte Anne. „Ist das nicht etwas unvorsichtig?“
„Ich wüßte nicht, warum“, entgegnete das Mädchen schnippisch.
„Willst du uns nicht ein Stückchen begleiten?“ fragte Dr. Schwab.
Sie neigte kokett den Kopf zur Seite und entgegnete
Weitere Kostenlose Bücher