082 - Die weisse Frau
Schrei“, sagte Anne Bloom. „Er kam vom Ufer her.“
Der Mathematiklehrer griff nach ihrem Arm. „Schnell! Das ist Lydia!“
Sie rannten durch den Park. In der Dunkelheit war kaum noch etwas zu erkennen, aber sie kannten den Weg. Kaum zwei Minuten, nachdem sie den Schrei gehört hatten, erreichten sie den Fluß.
„Nichts zu sehen“, stellte Dr. Schwab fest. „Wir müssen uns geirrt haben.“
„Sehen Sie doch!“ sagte Anne und wies auf das Wasser hinaus. „Ein Tuchfetzen!“
„Das muß nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben“, erwiderte Schwab. „Meinen Sie, daß Lydia ertrunken ist?“
„Sie kann nicht schwimmen.“
Dr. Schwab zog seine Jacke aus und warf sie achtlos ins Gras. „Holen Sie Hilfe, Anne!“
„Was haben Sie vor?“
Er antwortete nicht, sondern sprang ins Wasser. Nach wenigen Schritten schon war sie allein in dieser eisigen, lautlosen Welt. Ihr kamen die Eindrücke der vergangenen Nacht wieder in den Sinn. Warum hörte sie ihre eigenen Schritte auf dem Kies nicht? Warum war es so kalt? War es vorher auch schon so kalt gewesen?
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie wagte nicht, sich umzusehen, sondern rannte, so schnell sie nur konnte. Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Jedesmal, wenn ein Busch oder ein Baum vor ihr aus dem Nebel auftauchte, zuckte sie zusammen. Ihre Umgebung schien aus lauter lauernden, bösartigen Gestalten zu bestehen.
Doch die gefürchtete weiße Gestalt erschien nicht. Atemlos erreichte die Lehrerin das Schloß. Die beiden Polizisten standen neben ihrem Fahrzeug. Frau von Stöckingen war bei ihnen.
„Lydia!“ rief Anne. „Sie ist ins Wasser gefallen!“
„Na, beruhigen Sie sich erst einmal“, sagte Kommissar Wahlgahn. „Wenn das Mädchen ins Wasser fällt, ist das doch noch keine Katastrophe.“
„Sie kann nicht schwimmen. Dr. Schwab ist ihr nachgesprungen. Er sucht sie.“
„Mein Gott!“ stöhnte die Schulleiterin.
„Zeigen Sie uns den Weg!“ befahl Wahlgahn Anne Bloom. Und zu Frau von Stöckingen gewandt: „Sie rufen den Arzt! Schnell!“
Zusammen mit den beiden Männern rannte Anne zurück. Jetzt erschien ihr der Park plötzlich nicht mehr so unheimlich und düster. Sie hörte die wuchtigen Schritte der beiden Männer, und alles schien in Ordnung zu sein.
Die Jacke von Dr. Schwab lag noch im Gras, er selbst aber war nicht zu sehen.
„Wo ist er?“ fragte Wahlgahn.
Sie starrte hilflos auf das Wasser hinaus. Der Nebel war dichter geworden.
„Dr. Schwab!“ rief sie zaghaft.
„Dr. Schwab!“ brüllte Wahlgahn. „Wo sind Sie?“
„Gott sei Dank!“ antwortete die Stimme des Lehrers aus dem Nebel. „Ich wußte schon nicht mehr, wo das Ufer ist.“
Er schwamm aus dem Nebel heraus. Wahlgahn half ihm ans Ufer.
„Haben Sie etwas gefunden?“
„Nein.“
„Wir lassen Taucher kommen“, entschied Wahlgahn. „Daub, Sie übernehmen das! Wir anderen suchen das Ufer ab. Vielleicht hat sich das Mädchen verirrt. Daub, bringen Sie mir die Flüstertüte mit!“
Anne kehrte zusammen mit Dr. Schwab zum Schloß zurück. Sie sprachen kein Wort miteinander. Beide waren vollkommen erschöpft. Durch den Nebel klangen die Rufe des Polizisten zu ihnen. Die Stimmen entfernten sich immer mehr.
„Ich werde die Kollegen zusammentrommeln“, sagte Dr. Schwab, als sie das Schloß erreicht hatten. „Wir dürfen den Kommissar nicht allein lassen. Er kennt sich nicht aus.“
Während Dr. Schwab auf sein Zimmer ging, um sich umzuziehen, setzte Anne Bloom sich im Speisezimmer an einen Tisch und ließ sich von der Küchenhilfe eine heiße Brühe bringen. Sie trank gerade den ersten Schluck, als die Schülerinnen Harriett Mahler und ihre Freundin Petra König hereinkamen. Sie traten an den Tisch heran.
„Dürfen wir uns zu Ihnen setzen, Fräulein Bloom?“ fragte Petra.
„Bitte! Was kann ich für euch tun?“
Petra König war weder besonders hübsch noch besonders temperamentvoll – im Gegensatz zu Harriett – aber sie war die besonnenere von den beiden. Der Tod von Gerlinde hatte sie tief getroffen; das war ihr anzusehen, während Harriett den Schock schon weitgehend überwunden zu haben schien. Sie reagierte stets besonders heftig, gewann aber schnell wieder Abstand von den Dingen.
„Ich habe bisher vergeblich versucht, meinen Vater zu erreichen“, sagte Petra. „Er ist wohl wieder einmal auf Geschäftsreisen.“
„Warum wolltest du mit deinem Vater sprechen?“
„Weil ich gern nach Hause möchte, Fräulein Bloom. Ich wollte ihn
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