082 - Die weisse Frau
eröffnete die Schulleiterin das Gespräch. „Das tut mir leid. Entschuldigen Sie, bitte! Aber ich leide sehr unter diesem Vorfall.“
„Natürlich. Ich bin Ihnen auch nicht böse.“
„Anne, es ist schwer genug, in der heutigen Zeit ein derartiges Internat überhaupt zu führen. Die Ansprüche sind hoch. Die Eltern unserer Kinder sind peinlich auf den Ruf der Schule bedacht, auf die sie ihre Kinder schicken. Ein einziger kleiner Vorfall kann ein Haus wie dieses bereits in Verruf bringen. Das würde bedeuten, daß wir unsere – Kunden verlieren, von denen wir alle leben.“
„Das ist mir vollkommen klar, Frau von Stöckingen.“
„Dieses Unglück mit Gerlinde ist einfach entsetzlich. Ich bin vollkommen fassungslos. Und deshalb bitte ich Sie, um alles in der Welt, Anne, erzählen Sie weder der Polizei noch sonst jemandem etwas, was Sie nicht wirklich verantworten können.“
Anne Bloom versteifte sich, erhob sich und ging zur Tür. „Sie erlauben, daß ich mich verabschiede?“
„Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Wir alle wissen, daß es Spukgestalten nicht gibt.“ „Wissen wir das wirklich?“ Anne Bloom ging. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. Die Schulleiterin würde ihr niemals glauben. Sie war allein. Höchstens Dr. Schwab würde ihr zur Seite stehen. Was sollte sie tun? Warten, bis wieder etwas geschah? Nein, das lag ihr nicht. Aber konnte sie denn nachts das Schloß durchsuchen und dabei hoffen, die unheimliche Gestalt aufzuscheuchen? Sie wußte, daß sie das nicht tun würde; sie hatte Angst. Gerlinde war in den Tod getrieben worden. Wie, das wußte noch niemand. Vielleicht war die Wahrheit viel grauenhafter, als man sie sich vorstellen konnte.
Als sie die Bibliothek betrat, sah sie den Geschichtslehrer Dr. Emil Lohmann über einigen alten Büchern sitzen. Er blinzelte sie durch die dicken Gläser seiner Brille an. Der siebenundfünfzigjährige Mann, der sich hin und wieder zum Gespött der Klassen machen ließ, dann aber wieder beißend sarkastisch und verletzend ironisch sein konnte, machte einen fast heiteren Eindruck. So kannte Anne Bloom ihn eigentlich nur, wenn es ihm gelungen war, ein pädagogisches Problem zu lösen. Bei ihm gab es oft Probleme, die bei anderen Lehrern gar nicht erst auftraten.
„Ich hab’s!“ rief er. „Verehrte Kollegin, ich hab’s gefunden!“
Sie ging zu ihm und setzte sich neben ihn. Mit zitternden Händen zündete sie sich eine Zigarette an.
„Haben Sie endlich herausgefunden, mit welcher Schlange Kleopatra sich tötete?“
Er grinste in einer Weise, die ihr zeigte, daß er ihr diese Bemerkung nicht übelnahm, schüttelte den Kopf und tippte mit dem Zeigefinger auf das Buch, das vor ihm aufgeschlagen lag.
„Die Familienchronik der Familie derer von Groningen seit 1384. Ich habe das Geheimnis entdeckt.“
„Welches Geheimnis?“
„Das der weißen Frau natürlich.“
Anne Bloom war so überrascht, daß ihr fast die Zigarette entfallen wäre. Sie wußte überhaupt nicht, was sie sagen sollte. Dr. Lohmann, den sie immer für ein wenig vertrottelt gehalten hatte, grinste sie so lausbubenhaft an, daß sie ihn plötzlich viel besser verstand als früher. Er produzierte sich mit einem geradezu diebischen Vergnügen als der Pauker, dem man seine Streiche spielen konnte. Tatsächlich hatte er es aber faustdick hinter den Ohren und amüsierte sich vermutlich am meisten, wenn die Schülerinnen glaubten, ihn hereingelegt zu haben. Zugleich verfügte er über einen erstaunlich klaren und nüchternen Verstand. Er hatte sie in ziemlich übler Weise verdächtigt, ein Liebesverhältnis mit einer Schülerin eingegangen zu sein; jetzt erkannte Anne Bloom, daß er es nicht getan hatte, weil er ein boshafter, alter Mann war, sondern weil er vorausgesehen hatte, daß die Polizei diesen Verdacht hegen würde. Er hatte die ganze Geschichte viel distanzierter und überlegener betrachtet, als sie alle zusammen.
„Das Geheimnis der weißen Frau?“
„Allerdings“, erwiderte er eifrig. „Das heißt aber noch lange nicht, daß ich Ihnen auch glaube. Vielleicht haben Sie dieses Buch schon vor mir gelesen?“
„Ich weiß überhaupt nicht, was für ein Buch Sie da in der Hand halten.“
„Natürlich leugnen Sie. Das war ja auch nicht anders zu erwarten.“
„Erzählen Sie mir endlich, was Sie entdeckt haben!“ forderte Anne gereizt.
Er hob den Kopf, musterte sie abschätzend, verzog den Mund zu einem hochmütigen Lächeln, schlug das Buch
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