0820 - Horror-Baby
Herbst waren die Bänke zumeist leer. Wer sich um diese Jahres- und Tageszeit hier noch hinsetzte, der musste wirklich ein extremer Naturliebhaber sein.
Der Kinderwagen setzte seinen Weg fort. Die Speichen blitzten bei jeder Umdrehung. Das leichte Wippen blieb, und hin und wieder bewegte sich auch die Decke, als würden die kleinen Füße strampeln.
Bis das Fahrzeug plötzlich stoppte!
Nicht sanft, sondern ruckartig. Der Kinderwagen erhielt noch einen mächtigen Gegenschub, er drückte sich vorn nieder, als wollte sich der Haltegriff dem Boden nähern. Noch ein kurzes Zurückwippen, dann stand er still.
Und wieder war es nicht normal. Abermals wirkte er gefährlich, lauernd, beinahe schon bösartig.
Dann bewegte sich die Decke. Leise Geräusche waren zu hören.
Wieder erschien eine kleine Hand. Helle Finger krallten sich fest, und aus der Mulde des Kopfkissens erklang ein fürchterliches Geräusch.
Es hatte nichts mit dem Schreien eines Kindes zu tun, sondern erinnerte eher an das Fauchen eines kleinen Panthers.
Etwas richtete sich auf, schaute über das Kissen hinweg und auch über den hinteren Rand des Wagens. Dieses Etwas suchte ein Ziel, und das saß auf einer der Bänke, gar nicht mal weit entfernt.
Aus dem Wagen drang ein böses Kichern…
***
Selma Swan gehörte zu den Menschen, die normalerweise keinem Trubel aus dem Weg gingen. Tagsüber war es der Job in einem großen Kaufhaus, am Abend die Disco, wo man sich austoben und sich den Frust von der Seele tanzen konnte, ansonsten gab es kaum etwas dazwischen; das eine ging nahtlos in das andere über.
Und trotzdem war Selma sauer. Sie hatte über ihr Leben nachgedacht, und dabei war ihr ein guter Vergleich eingefallen. Sie bezeichnete ihr Dasein als die Summe zahlreicher Momentaufnahmen, die kamen, vergingen und nichts hinterließen.
Doch – sie hinterließen eine Leere.
Nur Momentaufnahmen.
Männer, die Selma anmachten oder von ihr angemacht wurden, aber sie alle waren nicht die Typen, die man für ein Leben brauchte, die man heiratete, an die man sich anlehnen konnte, wenn es Probleme gab, denn sie waren zumeist das Produkt der egoistischen Gesellschaft, in die sich auch Selma gut hineingefunden hatte. Sie hatte immer mitgespielt, war aber nun an einem Punkt angelangt, an dem ihr klar wurde: So konnte es nicht weitergehen!
Auf keinen Fall. Ihr Leben zerrann, und wie es dahinfloss, hatte sie in den letzten Wochen erlebt. Die Beziehung zu Fred hatte nur vierzehn Tage gedauert. Sie hatte sich schon Hoffnungen gemacht, doch er hatte sie fallenlassen und war lachend gegangen. Er hatte sie zurückgelassen, er wollte keine Bindung eingehen.
Sie überlegte, was sie falsch gemacht hatte. Sie musste jetzt einfach allein sein, sie wollte mit niemandem reden, weil doch alles keinen Sinn hatte. Niemand würde ihr irgendwelche Ratschläge geben können, durch dieses Tief musste sie allein durch, aber Selma gestand sich ein, dass ihr wildes Leben trotz aller Feiern und Partys im Prinzip nur aus Tiefs und Enttäuschungen bestand. Alles war wie ein flüchtiger Hauch.
Genau dreißig Jahre zählte sie jetzt, und das war so etwas wie eine Schallgrenze. Ihren Geburtstag hatte Selma Swan ganz allein gefeiert, wobei von feiern keine Rede sein konnte. Das heulende Elend war über sie gekommen, und in der Nacht hatte sie zum ersten Mal Bilanz gezogen und in sich selbst hineingelauscht.
Ihr war plötzlich klar geworden, was sie wirklich wollte. Einen Mann, eine Ehe, vor allem Kinder. Alles Dinge, über die sie in den vergangenen zehn Jahren gelacht hatte, die nun aber wichtig für sie geworden waren.
Der Geburtstag lag jetzt drei Tage zurück. Selma hatte die Probleme noch immer nicht verarbeitet. Sie wollte und musste nachdenken, aber sie wollte es nicht in ihrer Wohnung tun, denn dort kam sie sich vor wie in einem Gefängnis. Zudem waren die beiden kleinen Zimmer mit zu großen Erinnerungen behaftet. In der freien Natur konnte sie besser denken und auch richtig durchatmen.
Deshalb war sie mit ihrem kleinen Fiat hinab zu den Themseauen gefahren. Sie hatte den Wagen irgendwo abgestellt und war zu Fuß durch den Buschgürtel gegangen, bis hin zu den Bänken, wo sie ihren Platz gefunden hatte.
Der Sommer hatte sich zurückgezogen. Ein kühler Wind wehte über das Wasser und traf auch ihr Gesicht, als wollte er Tränen bei ihr trocknen. Selma hatte in den letzten Tagen einige Male geweint, denn sie wusste nicht, was sie anstellen musste, um nur in die Nähe ihres
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