0820 - Horror-Baby
Mund holte sie Luft.
Ihre Lungen brannten, aber noch schlimmer brannte das Gesicht.
Das warme Blut strömte aus den langen Reißwunden, die diese mörderischen Monsterkrallen hinterlassen hatten. Beide Gesichtshälften schmerzten fürchterlich, und Selma konnte die Tränen nicht unterdrücken. Sie weinte und stöhnte zugleich, während sie aus der rechten Jackentasche Papiertaschentücher hervorholte. Sie riss das Päckchen auf, die Finger zitterten dabei, so musste sie mehrere Male zugreifen, um die schmalen Tücher hervorzuholen.
Selma presste sie gegen die Wunden, nahm sie wieder weg, und kleine Fasern blieben kleben. Als sie einen Blick auf die Taschentücher warf, sah das Blut in der Dunkelheit fast schwarz aus.
Wieder tupfte sie das Blut aus ihrem Gesicht. Dabei wollte sie auch feststellen, wie tief und lang die Wunden an den Wangen waren.
Nicht sehr tief, aber länger zumindest als die Kratzer an der Stirn dicht über den Augenbrauen. Dabei hatte sie noch Glück gehabt, dass ihr die Krallen nicht noch die Augen ausgekratzt hatten.
Wer tat so etwas?
Zum ersten Mal dachte sie über diese Frage nach, ohne jedoch eine Antwort zu finden. Eines stand allerdings fest: Im Kinderwagen hatte sich alles andere als ein Baby befunden, und selbst an eine Katze wollte Selma nicht glauben.
Das musste etwas anderes gewesen sein. Etwas Schreckliches, Furchtbares, mit dem sie nicht zurechtkam. Ein Tier aus einem Zoo vielleicht. Aber, dachte sie, das ist noch keine Erklärung dafür, dass der Wagen plötzlich von allein losfährt.
Oder war er doch geschoben worden?
Selma suchte in ihrer Erinnerung. Sie dachte an den Moment, als ihr das Rad über das Gesicht gerollt war. Da hätte eigentlich jemand den Wagen vom Kopfende her schieben müssen, doch sie hatte niemand gesehen. Es war ohne fremde Hilfe geschehen.
Diese Tatsache flößte ihr noch mehr Furcht ein als der Angriff auf sie. Ein Schauer durchrieselte sie, und plötzlich kam ihr die Flussniederung wenig romantisch vor. Diese gesamte Umgebung war für sie zu einem Ort des Schreckens geworden.
»Ich muss hier weg!« flüsterte sie und weinte wieder, stand aber trotzdem auf und drückte auch weiterhin Papiertücher gegen ihre Wangen.
Ihre Schritte waren kraftlos, als sie sich auf den Weg zu ihrem Wagen machte. Eine einsame schwankende Gestalt, die ihre Gedanken nicht von den furchtbaren Ereignissen lösen konnte.
Immer wieder tauchte der Kinderwagen wie ein Gespenst vor ihrem geistigen Auge auf. Ein unheimliches Gefährt. In ihrer Fantasie war es noch größer geworden, und sie sah jetzt auch, was sich darin befand, denn über den Rand des Oberbetts hinweg schob sich ein grinsender Totenschädel, dessen Maul wie zum Biss aufgerissen war.
Sie erreichte ihr Auto und stemmte beide Ellbogen auf das Dach.
Schluchzend brach es aus ihr hervor. Der Strom der Tränen ließ sich nicht mehr zurückhalten, es war wie eine Explosion.
Irgendwann kehrte das normale Denken wieder zurück. Selma holte den Autoschlüssel hervor und öffnete die Fahrertür. Sie kroch auf den Sitz, warf die Tür wieder zu, schaltete die Innenbeleuchtung ein und warf zum ersten Mal nach dem schrecklichen Angriff einen Blick in den Spiegel.
Die Frau erschrak über sich selbst.
Sie sah schrecklich aus.
Auf der rechten Wange zeichneten sich drei tiefe Kratzer ab, auf der linken waren es zwei. Das Blut war an den Rändern schon eingetrocknet, aber in der Mitte schimmerte es noch immer feucht.
Sie schüttelte sich, das Brennen wollte einfach nicht aufhören, und auch auf der Stirn sah sie die Verletzungen.
Selma überlegte, was sie tun sollte. Zu einem Krankenhaus fahren und sich die Wunden desinfizieren lassen? Das wäre vernünftig gewesen. Auf der anderen Seite kochte auch so etwas wie ein Verantwortungsgefühl in ihr hoch. Dieser Kinderwagen war verdammt gefährlich. Was ihr passiert war, konnte ebenso anderen Menschen geschehen, und deshalb musste sie über die Attacke eine Meldung machen.
Die Polizei!
Ja, die nächste Polizeidienststelle anfahren, den Beamten Bescheid geben, und dort konnten sicherlich auch die Wunden versorgt werden.
Selma Swan schaltete die Innenbeleuchtung aus. Den Schlüssel hatte sie bereits ins Zündschloss gesteckt. Sie drehte ihn und hörte, wie der Motor ansprang.
Selma hatte den Fiat auf dem Parkplatz einer kleinen Grillhütte abgestellt, die bei diesem Wetter allerdings leer war. Die Frau schlug das Lenkrad nach links, um wieder auf die normale, sehr schmale
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