0835 - Geheimnis eines Toten
führten.
Meine Geburt… damals, auf Merlins unsichtbarer Burg Caermardhin, bezeichnete ich sie noch als meine Entstehung, als sei ich irgendein Ding, das in einer Fabrik hergestellt wird. Es macht mich nachdenklich, dass ich zum Beispiel dieses Detail nur noch deshalb weiß, weil ich es aufgeschrieben habe. Sonst wäre es längst im Dunkel meiner Vergangenheit verschwunden. Je weiter ich mich verändere, umso mehr ziehen die Nebel des Vergessens auf und verdunkeln alles, was länger als einige Stunden zurückliegt.
Wenn ich nun meine ersten Einträge lese, glaube ich, die Gedankengänge eines Fremden zu entdecken. Und das tue ich immer wieder, wenn meine Suche mir Zeit dazu lässt. Meine Augen huschen über die Zeilen, und immer wieder bin ich erstaunt.
Jener erste Eintrag, den ich noch auf Caermardhin tätigte… es ist nicht fassbar, dass ich ihm geschrieben haben soll. Welche-Verwirrung spricht aus diesen Zeilen, welche Unsicherheit. Wenn ich ihn lese, weiß ich, dass ich auf dem Weg zu einer besseren Existenz bin.
Caermardhin, der erste Tag unseres Aufenthalts:
Merlin hat uns hierher gebracht. Ein seltsamer Ort. Schrecklich in seiner Perfektion, der Innenraum größer als die äußeren Abmessungen. Der Saal des Wissens birgt Möglichkeiten, die selbst die meinen überschreiten. Oder… unsere? Meine, unsere - es ist eine große Verwirrung in uns.
Merlin sagte, wir seien ein ICH, wir sollen uns ICH nennen, nicht WIR. Eine neue Kreatur; nicht mehr Millings und Gerret und Langka.
Etwas treibt uns dazu, nur zu existieren, nicht zu handeln: das Langka in uns. Es war so lange nur Form und Gegenstand, verbarg sein Leben, das sich nur in der Veränderung seiner Oberfläche zeigte, wenn es schlief oder wachte. Nur Merlin wusste davon, Merlin, dem sich das Langka anvertraute und der es hütete, bis die Zeit gekommen war.
Ja, wir sind… wir existieren, weil das Langka es so wollte. Weil… weil ICH es so wollte, denn das Langka ist ich, sind wir, ist ein Teil von uns.
Merlin sagt, unsere Teile sind nicht trennbar. Wir tragen vielerlei Erbe in uns.
Andrew Millings: ein Auserwählter, der von der Quelle des Lebens getrunken hat. Er gibt uns ewiges Leben, er gibt uns den Sinn, gegen das Böse und die Dämonen und die Hölle vorzugehen. Er gibt aber auch die Angst, die Verzweiflung darüber; die eigene Existenz verloren zu haben.
Torre Gerret: ebenfalls ein Auserwählter. Doch er trägt nicht die Unsterblichkeit in sich, sondern den ewigen Tod, denn er starb schon vor Jahren und starb jahrelang, bis er ICH wurde. Er gibt uns die Liebe zum Bösen, zur Dunkelheit, zu den Dämonen. Er gibt den Triumph, die Begeisterung, wieder zu leben. Und er gibt uns die KRANKHEIT, die Zerstörung, denn das unendliche Leid zerbrach seine Seele.
Langka: selbst wir wissen nicht, wo es herkommt. Seine Ursprünge verlieren sich sogar für uns im Dunkel. Es ist zu alt. Irgendwann beschloss es zu leben, und Jahrhunderte später beschloss es, zu Merlin zu gehen. Wir wissen nichts darüber, aber wir wissen, dass es mächtig ist und dass es etwas mit unserer Vergangenheit und Zukunft zu tun hat: mit der Hölle der Unsterblichen.
Andrew Millings und Torre Gerret sind entgegengesetzte Pole, doch sie bekämpfen sich nicht, denn sie sind beide wir. Sind beide ICH. Und das Langka gibt uns die Kraft, die wir brauchen, weiter zu verschmelzen, uns zu entwickeln und eine Existenz zu werden, die alles sprengt.
Merlin sieht uns manchmal mit einem Blick an, der zeigt, dass er erschrocken ist. »Wo führt das hin?«, fragte er einmal, als er glaubte, dass wir ihn nicht hören. »Was wird hier entstehen?« Der alte Magier, Merlinus Ambrosius, Myrddhin Emrys, der mächtige Diener des Wächters der Schicksalswaage, Hüter vieler Welten - er zweifelt und ist ratlos.
Wegen uns.
Wegen MIR.
Er redet immerzu auf uns ein. »Entdecke, wer du bist«, fordert er. »Du hast ein großes Erbe in dir, und das bringt große Verantwortung mit sich.«
Und dann ist der andere gekommen, Merlins dunkler Bruder. Sid Amos, wie er sich heute nennt. Er trägt ebenso ein Erbe in sich, das Erbe des Höllenfürsten Asmodis, der er einst war. Das Erbe der Begegnungen mit LUZIFER selbst. Er ging durch die Flammenwand, und es gibt Momente, da wissen wir; was dort geschah. Oder wir glauben, es zu wissen. Selbst wir sind uns nicht sicher, und deshalb werden wir schweigen. Wir wissen ohnehin nicht, wieso wir es zu wissen glauben.
»Du bist wie wir«, sagten wir einmal zu Sid
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