0838 - Wo die Angst zu Hause ist
sie. »John, du hast ja bewußt aus dem Fenster geschaut, was ich auch verstehe, aber dieser Typ hat einen sezierenden Blick gehabt. Er stand nur kurze Zeit vor der Tür, aber er hat sich alles sehr genau angeschaut, das habe ich mitbekommen.«
»Was hast du denn gespürt? Das gleiche Feeling wie bei seinem Chef Sellnick?«
»Nein.«
»Sondern?«
Sie regte sich auf. »Herrje, das war einfach normal. Als wollte sich jemand vergewissern, ob sich ein anderer Reisender noch in seiner Nähe befindet.«
»Okay, du siehst es so.«
»Und ich werde auch wieder an seiner Abteiltür vorbeigehen. Ich muß da Gewißheit haben.«
Janes Verhalten wunderte mich. Sie war ziemlich schnell aufgedreht, hatte sich auf eine selbst für mich ungewöhnliche Art und Weise verändert. Im schwachen Licht der Deckenleuchte sah ich ihre Anspannung, als wäre schon jetzt jemand dabei, sie zu malträtieren.
Ich beugte mich vor und legte meine Handfläche auf ihren Handrücken. »Jane, bitte, komm wieder zu dir. Es ist noch nichts geschehen, daß zu einer derartigen Reaktion deinerseits berechtigt.«
»John, ich spüre es anders.«
»Wie denn?«
Sie knurrte mich beinahe an. »Mein Inneres ist aufgewühlt. Die alte Restkraft der Hexe hat neue Nahrung erhalten, denke ich. Und das ist nicht von ungefähr geschehen. Nicht weit entfernt befindet sich eine Quelle der Gefahr. Sie strömt etwas aus, das ich sehr genau spüre, mehr kann ich dir auch nicht sagen.«
»Du willst trotzdem hin?«
»Ja.« Sie drehte den Kopf und schaute gegen die Abteiltür, denn der dunkelhaarige Typ war zurückgekehrt. Diesmal passierte er uns, ohne uns überhaupt einen Blick gegönnt zu haben. In der rechten Hand hielt er eine Tüte. Wahrscheinlich hatte er etwas zu essen geholt, denn es gab hier einen Büfettwagen.
»Was sagst du jetzt?«
»Nichts, John.«
»Diesmal hat er sich nicht für uns interessiert.«
»Denkst du denn, daß er auffallen will.«
»Und du bleibst bei deinem Plan?«
»Auch wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Füßen winkst, ich werde gehen.«
Janes Dickkopf war mir bekannt. »Wenn du das schon tust, dann sollten wir eine Zeit ausmachen.«
»Einverstanden.«
»Fünf Minuten?«
»Viel zu kurz, John.«
»Also zehn.«
Damit war sie einverstanden, lächelte knapp und stand mit einer ruckartigen Bewegung auf. »Wir sehen uns dann.«
Ich wollte ihr noch etwas sagen, es hatte keinen Sinn. Außerdem war Jane eine erwachsene Person, die wußte, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten mußte. Ich kannte sie schon lange, so einfach würde sie sich nicht unterkriegen lassen.
Sie hatte die Abteiltür ziemlich heftig zugezogen, und so blieb ich allein zurück.
Es war ein deutscher Zug, der nach Warschau fuhr, und ich genoß die Bequemlichkeit dieses Eurocity. Ich hätte es mir eigentlich gutgehen lassen können, was mir aber nicht gelang. Je intensiver ich über Jane und ihre Reaktionen nachdachte, um so mehr mußte ich ihr recht geben. Wenn sie als ehemalige Hexe den Eindruck hatte, daß sich etwas Schwarzmagisches oder Böses in unserer Umgebung aufgebaut hatte, dann konnte sie durchaus richtig liegen.
Das Fenster, aus dem ich schaute, gab mir auch keine Antwort. Die Landschaft war kaum zu sehen.
Schon längst hatte sich die Dunkelheit des frühen Abends über sie gelegt, und in der weiten, flachen Landschaft schimmerten nur wenige Lichter. Hin und wieder rollten wir an einer Straße vorbei, auch über Brücken, mal an einem Dorf vorbei oder hindurch, in der Regel jedoch umschloß die Einsamkeit den Zug wie mit mächtigen Schwingen.
Dann sah ich den Schatten.
An der Scheibe, in der Scheibe, außerhalb?
Ich wußte es nicht genau, es konnte eine Spiegelung sein. Ich drehte den Kopf, weil ich die Gestalt oder den Schatten an der Abteiltür vermutete, dort stand jedoch niemand.
Also schaute ich wieder Richtung Fenster.
In der Mitte befand sich ein heller Fleck, der tatsächlich aussah wie ein Gesicht.
Ein Geist?
Meine Entspannung war verflogen. Wie ich der Sache auf den Grund gehen konnte, das wußte ich nicht. Mir war nur klar, daß ich etwas tun mußte, doch das Gesicht in der Scheibe verschwand, als hätte man es weggeputzt.
Es blieb auch verschwunden, dafür wischte ich über meine Augen und überlegte, ob ich einer Täuschung erlegen war.
Nein, wohl nicht.
Ich stand auf. Es drängte mich einfach dazu, das Abteil zu verlassen. Ich hatte mich schon gedreht, als es mich wie ein Blitzschlag traf.
Vor der Tür
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