0840 - Das Drachenmädchen
durchtränkt war, weil der Körper zwei schreckliche Wunden genau in Höhe des Herzens aufwies…
***
Ten Ho wußte nicht, was er denken sollte. Er handelte auch nicht. Er stand einfach nur auf der Stelle, hörte sich selbst keuchend atmen, er schüttelte kaum merklich den Kopf und preßte seine Hände zu Fäusten zusammen.
Für ihn war es grauenhaft. Er hätte nie im Leben damit gerechnet. Es war wie ein Schlag in den Magen, und er spürte, daß die Übelkeit in ihm hochstieg.
Sein Hals war trocken. Die Haut unter dem Kehlkopf zuckte. Er spürte das Brennen in den Augen, aber Ten Ho fühlte sich nicht in der Lage, nach seinem Sprechgerät zu greifen, um seinen Kollegen unten in der Halle Bescheid zu geben.
Es waren noch zwei junge Frauen, die der Killer so endgültig erwischt hatte. Die eine trug das Haar kurz, die andere so lang, daß sie es im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte. Er mußte sich zwingen, in die Gesichter zu schauen, und dort sah er jeweils den gleichen Ausdruck. Einen namenlosen Schrecken wie eingemeißelt, den beide in den letzten Sekunden ihres Lebens durchlitten hatten.
Wer war der Mörder?
Der Schatten?
Viele Gedanken und Vermutungen huschten durch seinen Kopf. Er fühlte sich schlecht, die Beine waren weich geworden, er rechnete damit, jeden Augenblick zusammenzubrechen und umzufallen.
Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen, und Ten Ho glich mehr einer Leiche als einem noch lebenden Menschen.
Ob Sekunden oder Minuten vergangen waren, konnte er nicht sagen. Aber er griff in die Tasche und holte das flache Gerät hervor. In diesem Augenblick hörte er das Geräusch.
Es war nicht laut, es klang schleifend, als würde etwas über den Boden rutschen.
Hinter ihm…
Die Gänsehaut auf seinem Rücken fraß sich fest. Sie bohrte sich in seinen Körper, als bestünde sie aus unzähligen Nadeln, und der Mann fürchtete sich davor, dorthin zu schauen, wo er das Geräusch vernommen hatte. Dazu mußte er sich umdrehen, was er auch tat, aber erst als er tief Luft geholt hatte.
Ten Ho schwang herum.
Er schaute auf die Tür.
Und er sah das Mädchen!
***
Es lächelte ihn an. Es konnte nicht älter als zwanzig sein. Es war für eine Chinesin überdurchschnittlich groß, aber bei genaueren Hinsehen mußte er feststellen, daß er es mit einem Mischling zu tun hatte. Ein Elternteil stammte aus China.
Die Unbekannte trug eine schlichte schwarze, eng anliegende Hose und einen dünnen Pullover, dessen grauer Stoff mit feinen Silberfäden durchwebt war.
Ten Ho hatte diese Person noch nie gesehen. Sie wäre ihm sicherlich aufgefallen, denn in ihr vereinigten sich zwei Welten. Die Exotik Asiens und europäischer Charme.
Ten Ho wunderte sich, daß er es schaffte, seine Gedanken zu ordnen, und er brachte es sogar fertig, eine Frage zu stellen, auch wenn ihm die eigene Stimme fremd vorkam.
»Wer bist du?«
Das Mädchen lächelte nur.
Eine derartige »Antwort« hatte er nicht erwartet. Logisch, daß sich Ten Ho unwohl fühlte und auch weiterhin versuchte, Ordnung in seine sich überschlagenden Gedanken zu bringen. Er wunderte sich selbst, daß er zu einem Entschluß gelangte. Die Unbekannte hatte die beiden Toten hinter ihm sehen müssen, denn er verdeckte die Sicht auf sie nicht. Aber von der Fremden war keine Reaktion ausgegangen. Sie hatte die toten Frauen als eine Tatsache akzeptiert und nicht mal einen Schrecken gezeigt. So, als wäre das völlig normal gewesen.
Damit kam der Wächter nicht zurecht. Es blieb nur eine Folgerung. Die Unbekannte wußte Bescheid. Nicht nur das, womöglich steckte sie mit dem Killer unter einer Decke oder hatte die furchtbaren Taten selbst begangen.
Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Noch einmal stürmte alles auf ihn ein wie ein mächtiger Windstoß, und er spürte selbst, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Das Mädchen ging einen Schritt vor. Nichts war dabei zu hören. Als hätte sie den Boden überhaupt nicht berührt. Wie ein Geist, der die Form des menschlichen Körpers behalten hatte.
Beim ersten Fragen hatte er keine Antwort bekommen. Ten Ho gab nicht auf, er versuchte es erneut, diesmal sprach er drängender, wenn auch flüsternd.
»Sag mir, wer du bist!«
Das Mädchen bewegte nur die Augen. Schöne, große Augen, versehen mit einem geheimnisvollen Glanz, als wäre der Blick nach innen gerichtet, so daß sie Dinge erkennen konnte, die andere, normale Menschen eben nicht sahen.
»Ich bin Li Warren…«
Ten Ho hatte sich zwar die Antwort
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