0840 - Das Drachenmädchen
dabei sehr rundlich, so daß sie noch kompakter wirkte. Sie trug ein dunkles Kostüm und hielt mit der rechten Hand den Griff einer Aktentasche fest.
»Ja, das wollen wir«, sagte Shao.
Die Frau nickte, schwieg ansonsten. Auch ihr Kopf war rund, und das schwarze Haar mit den grauen Strähnen hatte sie in die Höhe gekämmt. Auf dem Kopf hatte sie es dann zu einem Knoten zusammengerollt, der wie eine kleine Kugel auf der größeren saß, in dem pausbäckigen Gesicht wirkte der Mund ebenso klein wie die Nase, und bei den Augen war es der gleiche Fall. Um sie herum hatten sich schmale Falten in die Haut eingegraben. Das gleiche Muster wiederholte sich auf der Stirn.
Der schmale Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Jetzt staunen Sie aber, nicht wahr?«
»Ein wenig«, gab Suko zu.
Die Frau wechselte die Aktentasche in die linke Hand und streckte die andere aus. »Ich heiße übrigens Chu.«
Shao nahm die Hand etwas zögernd, stellte sich dann vor, und anschließend tat Suko das gleiche.
»Ihr seid nicht von hier?«
»Nein.«
»Ich dachte es mir, obwohl ihr nicht so ausseht wie Touristen.«
»Wie sehen wir dann aus?« fragte Shao.
Chu wand sich ein wenig. »Es gibt Leute, die sagen zu mir: Madame Chu, beschreibe uns die Menschen. Gib uns Tips, aber schaue hinein in ihre Seele, den Körper sehen wir selbst.«
»Dann haben Sie auch in unsere Seelen schauen können?«
»Nein, Shao, so gut kennen wir uns noch nicht. Aber ich merke, daß ihr keine Touristen in dem strengen Sinne seid.«
»Das mag wohl sein, Madame Chu. Wir sind nach Hongkong gefahren, um uns mal wieder in der alten Heimat umzuschauen.«
Die Frau, die sechzig, aber auch siebzig Jahre sein konnte, lächelte. »In der alten Heimat also. Und dann schaut ihr euch ausgerechnet dieses Haus hier an?«
»Ja, warum nicht?«
»Bitte, Shao, ich habe ja nichts dagegen. Könntet ihr vielleicht einen besonderen Grund dafür haben?«
Diesmal sprach Suko. »Möglich… und Sie?«
»Ich habe ihn auch!«
Suko ließ die Katze noch nicht aus dem Sack. »Vielleicht meinen wir das gleiche?«
Madame Chu nickte bedächtig. »Ja, das könnte sein. Das liegt durchaus im Bereich des Greifbaren. Auch mich hat dieses Haus einfach nicht schlafen lassen.«
Der Inspektor wurde jetzt konkret. »Das Haus - oder war es das Gesicht in der Fassade.«
Für einen Moment erstarrte die kleine Person. Dann nickte sie. »Ja, Sie haben recht. Es ist das Gesicht. Ich muß mich entschuldigen, daß ich Teile Ihrer Unterhaltung vorhin mitbekommen habe. Nur deshalb habe ich Sie auch angesprochen. Das Gesicht des Mädchens scheint für Sie beide ein Rätsel zu sein.«
»Für Sie nicht?« fragte Shao.
»Nein, nicht so stark, obwohl ich zugeben muß, daß ich seinetwegen hier erschienen bin. Ich habe die Botschaft schon empfangen.« Ihre Mundwinkel zuckten, die Frau selbst nahm eine abwehrende Haltung ein. »Der Zeitpunkt ist einfach da.«
»Für wen?«
»Mein liebes Kind, Sie sind noch sehr jung. Was aber hier geschehen ist, ist uralt. Man hat es nur verdrängt und vergessen, obwohl man die Lücke groß genug gelassen hat, damit das Böse hinausströmen kann. Aber so leicht lassen sich die Dinge nicht vertreiben. Man wird für alte Fehler büßen müssen.«
Suko hob die Schultern. »Ehrlich gesagt, sprechen Sie in Rätseln, aber Sie scheinen trotzdem mehr zu wissen. Würden Sie uns an diesem Wissen teilhaben lassen?«
»Das muß ich mir noch überlegen. Nehmen Sie mir die Antwort bitte nicht übel, aber dieses Gesicht und alles, was damit zusammenhängt, ist kein Kinderspiel.«
»Denken Sie dabei an die Schlange oder den Riesenwurm, der über das Gesicht huschte?«
»Mein lieber Suko, Sie irren sich. Das ist keine Schlange, das ist auch kein Wurm. Wir haben es hier mit einem Drachen zu tun. Ich gebe zu, daß er etwas verändert aussieht. Im Prinzip allerdings ist und bleibt er ein Drache. Und das Mädchen, es heißt Li Warren, ist das Drachenmädchen. Wußten Sie das nicht?«
Shao und Suko schauten sich an. Die Eröffnung haute sie zwar nicht um, überrascht waren Sie trotzdem. Diese kleine Frau vor ihnen wußte mehr als sie beide zusammen.
»Sie sehen uns wirklich überrascht«, gab Suko zu. »Darf ich fragen, Madame Chu, wer Sie sind?«
»Nur eine ältere Frau.«
»Das glauben wir Ihnen nicht. Eine normale ältere Frau würde sich nicht die Mühe machen, in der Nacht auf zustehen, um in ein bestimmtes Haus zu gehen. Nein, wir gehen davon aus, daß Sie durchaus ein Motiv
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