0840 - Siegel der Rache
Siegelbuch finden.
Doch zunächst fanden sie eine offene Tür und einen hoch gewachsenen Mann, der seinen Mund zu einem Entsetzensschrei geöffnet hatte. Wie eine Statue stand er mitten in dem kleinen Raum, starrte auf den Tisch, der nur wenige Schritte vor ihm stand.
Der Mann schrie nicht. Er hätte es sicher gerne getan, um dem Grauen Luft zu machen, das ihn schier zum Platzen bringen wollte. Doch da war kein Ton in ihm, der dem angemessen wäre, was seine Augen hier erblickten.
Zamorra drängte sich an dem Mann vorbei. Mit einem einzigen Blick übersah er die ganze Situation, und plötzlich war er wieder die entschlossene, handelnde Persönlichkeit, die Robin in den vergangenen Stunden für verloren gehalten hatte.
»Pierre, schick deine Leute hinaus«, verlangte er. »Das muss niemand außer uns sehen.«
Robin handelte sofort. Serou ließ sich ohne Widerstand abführen; es sollte lange dauern, bis er wieder bei Sinnen war und seiner Strafe zugeführt werden konnte. Der Chef der berüchtigten V Voleurs war ein gebrochener Mann.
Zamorra und Robin näherten sich vorsichtig dem kleinen Tisch, hinter dem auf einem klapprigen Stuhl die Leiche einer alten Frau saß. Sie wirkte wie eine Greisin, ihre Haut war mit Falten übersät, das kleine Gesicht, das einst sicher hübsch gewesen war, schien in sich eingefallen zu sein; überdeutlich traten Wangen- und Stirnknochen hervor.
Ihre Hände ruhten auf dem aufgeschlagenen Siegelbuch, als hätte sie noch eben eine neue Seite aufgeblättert. Doch angefangen bei ihren Fingerspitzen, bis weit hinauf zu ihrem Hals, war der Körper der Frau mit einer Schicht überzogen… graubraun… von groben Narben überzogen. Zamorra musste Gewalt anwenden, um die Hände der Alten vom Buch abzulösen. Die Handflächen waren von dem Belag verschont geblieben, doch in ihnen konnte Zamorra Symbole erkennen, die ihn an frühere Siegelöffnungen erinnerten.
»Was zum… was ist das, Zamorra?« Pierre Robin war einiges gewöhnt, wenn er mit dem Parapsychologen unterwegs war, doch so etwas war ihm noch nie untergekommen.
Der Professor wiegte den Kopf hin und her. »Das Buch hat die Frau zu seiner Erfüllungsgehilfin gemacht. Ein Siegel wurde gebrochen. Diese Schicht - wenn du den Einband des Buches siehst, wirst du es erkennen. Es ist wie ein Kokon, der daraus erwachsen ist. Ich muss den Text entziffern.«
Pierre Robin fragte sich ernsthaft, wo Zamorra hier einen Text sah? Der Polizeibeamte sah nichts weiter als Striche, Kleckse, ein paar Haken, die allesamt wirr und ohne erkennbaren Sinn auf den geöffneten Seiten verteilt waren.
Doch Zamorra begann zu lesen. Ihm offenbarte sich hier anscheinend etwas, für das Robins Augen wohl nicht gemacht worden waren. »Ich bin das Siegel der Not. Wenn Gefahr aufzieht, so werde ich da sein. Und ich bin das Siegel der Rache. Wer auch immer das Buch in diese Lage gebracht hat, wer es angreift oder an einen fremden Ort schaffen lässt, der wird in Schmerz und Grauen vergehen. Drum bring mich zu dem Hort, der auf mich wartet. Sonst wird die Strafe ewig sein.«
Pierre Robin gab sich erst überhaupt nicht die Mühe, den Sinn dieser Worte zu begreifen. Es war nicht sein Ding, in Rätseln und Metaphern zu wühlen. Ein Blick in Zamorras plötzlich wachsweißes Gesicht verriet Robin jedoch, dass der Professor die Worte durchaus begriffen hatte - und auch den Sinn, der ja eventuell in ihnen verborgen sein mochte.
Zamorra schlug das Buch so heftig zu, dass Robin erschrak. »Ich muss ins Château. Sofort. Pierre, hilf mir jetzt. Nicole, sie schwebt in höchster Gefahr.«
Keine zwei Minuten raste Robins Dienstwagen in Richtung Château Montagne.
Der Klang der Wagensirene durchschnitt die anbrechende Nacht…
***
Neben Robin hockte Professor Zamorra auf dem Beifahrersitz, starrte aus weit aufgerissenen Augen durch die Frontscheibe des Wagens. Der Chefinspektor sparte sich den-Versuch, den Parapsychologen anzusprechen. Sinnlos, denn der Mann war in Gedanken bereits im Château. Dort jedoch fürchtete er offenbar eine grauenhafte Situation vorzufinden.
Warum? Das entzog sich Robin nach wie vor. Doch er hatte gelernt, bei Zamorra nicht zu viele Fragen zu stellen, nicht zu heftig ins Zweifeln zu geraten. Für gewöhnlich behielt der Professor nämlich Recht.
Die Fahrt zum Stadtpark, in dem an einer versteckten Stelle Regenbogenblumen wuchsen, schien Robin endlos lange zu dauern, auch wenn er wirklich alles aus dem Wagen herauskitzelte, was unter der Motorhaube
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