0841 - Erst lieb ich dich, dann beiß ich dich!
Verlies betreten hatte, wußte sie nicht. Er war nicht durch die Tür gekommen, zumindest hatte sie nichts gehört, aber er stand vor ihr, und das war keine Täuschung. Er mußte durch die Mauer geschwebt sein, er war ein Magier, ein Zauberer und ein Hexenmeister zugleich. Er bewegte sich nicht, und es machte ihm auch nichts aus, daß er dort stand, wo die Kohlen lagen.
War er ein Mensch? War er ein Geist?
Trotz der erlittenen Qualen und der noch vorhandenen Schmerzen schaffte es die junge Frau, sich auf die Erscheinung zu konzentrieren. Nur sie beherrschte ihr Denken, sie war es, die ihr nicht mal Angst einjagte, sondern Hoffnung gab, und Cynthia wunderte sich darüber, daß es ihr trotz der erlittenen Folter gelang, noch eine Frage zu stellen.
»Bist du… bist du der Teufel?«
Die Gestalt gab ihr keine Antwort. Sie stand nur da und schaute sie an.
Cynthia wußte nicht, was sie dagegen unternehmen sollte. Sie schämte sich plötzlich wegen ihrer Nacktheit, aber sie schaffte es auch nicht, den Blick von diesem Eindringling zu wenden, und so saugte sie jede Einzelheit in sich auf, die sie erkennen konnte.
Er war hochgewachsen.
Ob er aus Fleisch und Blut bestand, wußte sie nicht, denn er war zu dunkel, glich mehr einem in die Luft gemalten Schatten, der sich nicht rührte und auf einen bestimmten Befehl wartete. Dunkel war sein Körper oder die Kleidung, aber heller schimmerte sein Gesicht, auch wenn es durch die abstrahlende Glut der Kohle einen rötlichen Schimmer gekriegt hatte.
Ein schmales Gesicht, eine Haut ohne die Wunden einer schlimmen Folter. Eine hohe Stirn, das glatte Haar straff zurückgekämmt, eine leicht gebogene Nase, Wangen, über die sich die Haut scharf spannte, und ein Kinn, das etwas weit hervorsprang.
Sehr dunkle Augen, in deren Pupillen ein schwaches Schimmern der Glut zitterte. Er trug einen langen Umhang, an den Schultern schmaler, in Höhe der Waden breit wie ein Reifrock.
Wer war dieser Mann?
Er schien die Hitze der Kohlen ebensowenig zu spüren wie den Rauch. Er war etwas Besonderes, und von ihm ging eine Kälte aus, die Cynthia frösteln ließ. Das war keine normale Kälte, wie der Mensch sie im Winter erlebte, diese hier war anders.
Die junge Frau konnte dieses Gefühl nicht in Worte fassen, denn eine derartige Kälte hatte sie noch nie erlebt, einen so starken Blick ebenfalls nicht.
Sie wartete noch immer auf eine Antwort, und der Unbekannte ließ sich damit Zeit. »Willst du dein Leben behalten und den Häschern entkommen?« Mit dieser Frage überraschte er Cynthia schließlich.
Die Gequälte hatte die Frage verstanden, doch sie wußte keine Antwort.
»Willst du es?«
»Ja - ja!« stieß sie hervor. »Ich… ich will es. Ich will am Leben bleiben! Ich bin nicht… ich will nicht sterben. Ich will nicht im Feuer verbrennen…« Sie hatte keine Kraft mehr, um noch etwas zu sagen. Ihre weiteren Worte versickerten im Hals, der so trocken war wie ein Sandbett.
»Vertraust du mir?«
Sie nickte.
Zum erstenmal zeigte der Unbekannte eine Regung. »Das ist gut«, lobte er sie, »denn du mußt mir voll vertrauen.«
Cynthia lauschte seiner Stimme nach. Sie klang normal und trotzdem anders. Sie suchte nach einer Erklärung, es war schwer, sie zu finden. Diese Stimme hallte irgendwo nach. Sie schien von woanders her zu kommen, während der Mann in ihrem Verlies stand. Als hätten er und die Stimme keinerlei Verbindung miteinander.
Es war alles so seltsam und unerklärlich. Nur befand sich Cynthia nicht in der Situation, um darüber nachdenken zu können. Sie mußte sich den Tatsachen stellen und vor allen Dingen an sich denken.
Alles würde sie tun, um dem Scheiterhaufen zu entwischen. In ihrem Mund hatte sich wieder etwas Speichel angesammelt. So schaffte sie es, die nächsten Worte hervorzubringen. »Was soll ich denn tun, wenn du mich fragst, ob ich dir vertrauen will?«
»Du mußt mir etwas geben!«
Cynthia begriff die Antwort nicht. Sie war nackt und konnte sich nicht vorstellen, was sie ihm noch geben sollte. Es sei denn - aber das hatten sich die anderen schon genommen, als sie sich auf sie gestürzt hatten.
»Ich…?« flüsterte sie.
»Ja.« Er kam näher. Es war kaum etwas zu hören. Die Gestalt schien über der Glut zu schweben.
»Wenn ich dich vom Scheiterhaufen wegholen soll, wirst du mir etwas geben, das ich brauche. Es ist dein Blut, Cynthia Droux. Ich will dein Blut!«
In diesem Augenblick hatte sie ihre schreckliche Vergangenheit vergessen. Sie war
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