0850 - Rache aus der Totenkammer
Schrei!
Hoch, beinahe quietschend und auch schrill.
Er wollte nicht mehr vor dem Spiegel stehenbleiben. Er konnte nicht hineinschauen. Mit einem Schritt ging er nach rechts, erreichte die Stuhlkante, und knickte genau dort mit dem Fuß ab.
Dann fiel er nach unten.
Es klatschte, als er auf dem Boden landete. Das Geräusch hörte sich für ihn an, als hätte jemand einen mit Wasser gefüllten Gummisack auf die Erde geschleudert.
Egon Kraft blieb liegen. Die Beine angezogen, das Gesicht in den Händen vergraben…
***
Harry Stahl und Franz Jochem hatten ihr Ziel erreicht, und der ehemalige Kommissar mußte schon schlucken, als er das Gebäude sah.
Sie waren aus dem Golf gestiegen und schauten auf die hohen Mauern, die einen Innenhof umgaben.
Der Bau selbst lag in einer Senke und war so einfach nicht zu entdecken, denn er wurde von vier verschiedenen Seiten her durch einen ziemlich dichten Wald geschützt. Daß ein blauer, beinahe schon strahlender Himmel über der Senke lag, empfanden beide Männer als Farce, aber es war eine Tatsache, und der Frühling ließ sich nun einmal nicht zurückhalten, auch wenn die Temperaturen eher winterlich waren.
Es war nur schwer vorstellbar, daß hinter den Mauern Menschen gefangengehalten und zu Tode gequält worden waren, und Harry schüttelte sich bei diesem Gedanken.
Auf den hohen Mauern malten sich noch die Reste der Alarmanlagen ab.
»Ja«, sagte Franz Jochem leise. »Hier habe ich mal gearbeitet, Herr Stahl« Er wischte sich über die Augen, als wollte er die Bilder der Erinnerung wegdrängen. »Das liegt einige Zeit zurück, und ich schwöre Ihnen, daß ich einer derjenigen gewesen bin, die versucht haben, den Gefangenen zu helfen, was später sogar bei den Verhören und den Vernehmungen der ehemaligen Gefangenen schriftlich festgehalten wurde. Wenn Sie wollen, können Sie das alles nachlesen.«
»Ich glaube Ihnen.«
»Danke.«
Harry hielt sein Gesicht in den Wind, der über das alte Gebäude hinwegwehte. Der ehemalige Kommissar bildete sich womöglich ein, noch das Grauen zu riechen, das zwischen den alten Mauern hing wie die Fetzen vergammelter Kleidung.
»Sollen wir?« fragte er.
»Natürlich. Das Tor ist ja offen.«
Sie gingen. Mit normalen Schritten über einen Weg oder eine Zufahrt, die von tiefen Reifenspuren gekennzeichnet war. Zahlreiche Lastwagen hatten sie hinterlassen. Transporter, die neue Gefangene brachten und andere abholten.
Es war eine Umgebung der Stille, der Bedrückung und Beklemmung. Harry wollte den Vergleich mit einer sterbenden Landschaft eigentlich nicht zulassen, doch er kam immer wieder darauf zurück.
Hier lag etwas im Sterben, hier wurden die Ereignisse unter den schweren Schatten der Vergangenheit erdrückt.
Man hatte das ehemalige Eisentor einfach aus der Mauer herausgesprengt und weggeschafft. Der Blick in den Hof war frei, und zum erstenmal sah Harry Stahl die barackenähnlichen Bauten des Lagers X, die in einem offenen Karree standen und durch Gänge miteinander verbunden waren, wie er von Jochem gehört hatte.
»Wo haben Sie gearbeitet?« fragte Stahl.
Franz Jochem streckte den rechten Arm aus. Er wies über den steinigen Boden auf das rechte der Gebäude. »Dort war mein Arbeitsplatz«, erklärte er mit kratziger Stimme.
»Sie sprachen von einem Bunker.«
Jochem nickte. »Ja, es war ein Bunker. Ich war zumeist unten in der Nähe der Todeszellen. Dort habe ich mich versucht.« Er schüttelte den Kopf. »Es kommt wieder alles hoch, Herr Stahl. Die Gesichter der Gefangenen, ihre Schreie, all ihre Verzweiflung. Ich werde noch immer davon überfallen, obwohl ich gedacht habe, es endlich vergessen zu haben, aber es ist nicht vergessen worden. Dieses Grauen gehört eben mit zu dieser Welt, in der wir leben, und auch ich muß mich damit abfinden. Ich habe schon zu meiner Frau gesagt, daß ich es nie schaffen werde, die schrecklichen Erinnerungen aus dem Kopf zu bekommen. Sie haben sich dort festgesetzt, sie sind einfach da, und sie werden nie mehr verschwinden, weil sie auch ein Teil meines eigenen Unterbewußtseins geworden sind. Verstehen Sie das?«
Harry nickte. Er hatte die Hände in die Taschen geschoben. »Ich kann es Ihnen nachfühlen.«
»Danke.«
»Wofür?«
»Daß Sie mir überhaupt zuhören. Ich bin so froh, einen Menschen gefunden zu haben, mit dem ich über meine Probleme reden kann. Können sie sich vorstellen, daß ich mit allen Erinnerungen und Gedanken immer allein gewesen bin?«
»Ja, das kann
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