0850 - Rache aus der Totenkammer
erzählen, und er hoffte, daß er ihn irgendwann einmal vergessen konnte.
Die Leiche der Frau sollten andere wegschaffen. Kraft würde keinen Blick mehr auf sie werfen…
***
Keiner der beiden Männer wußte, was er sagen sollte. Harry und Franz standen da wie vom Blitz getroffen, und sie dachten beide über die finstere Botschaft nach.
»Hütet euch! Hütet euch vor der Rache des Pandämoniums!«
Was sollte das? Warum diese Worte? Eigentlich hätte Harry Stahl jetzt stark sein müssen, doch wenn er ehrlich gegen sich selbst war, dann mußte er zugeben, daß auch er mit dieser Warnung nicht zurechtkam. Es war ein Wort gefallen, über das sich schon nachzudenken lohnte. Da hatte eine Stimme von einem Pandämonium gesprochen, und Harry versuchte, diesen Begriff zunächst für sich selbst zu erklären.
Es mußte eine Welt sein, eine andere Welt, jenseits der sichtbaren.
Ein Reich für Dämonen und Geister, zumindest etwas in dieser Richtung, das war ihm schon klar. Aber was hatte dieses Pandämonium mit ihnen beiden zu tun?
Sie leuchteten das dunkle Gesicht noch immer an. Es war ein düsteres Puzzle, und erst bei genauerem Hinschauen stellten sie fest, daß dieses Gesicht aus einer einzigen Masse bestand und nicht aus mehreren Stücken, denn was sich dort als Rechtecke abzeichneten, waren die Fliesen der Wand. Sie sahen aus wie nach vorn gedrückt, was durchaus eine optische Täuschung sein konnte.
Obwohl auch Harry Stahl mit dieser erneuten Veränderung nicht zurechtkam, faßte er sich als erster. Er hatte sich die Kehle freigeräuspert und schaffte es nun, auch eine Frage zu stellen. »Wer bist du?« keuchte er der Fratze entgegen.
»Hütet euch…«
Sie bekamen keine andere Antwort. Dafür allerdings nahm das Gesicht an Stärke zu. Es verdichtete sich in seinem Innern, und aus dem Grau wurde eine tiefschwarze Farbe. Die Nase wölbte sich dabei hervor wie ein krummer Hügel, die Augen waren nicht zu sehen, sie lagen in zwei tiefen Schattenhöhlen, dafür trat der Mund deutlich hervor. Er war nichts anderes als eine verzerrte Fratze, aus der oben und unten unterschiedlich lange Zähne hervorwuchsen.
»Wer – ist – das?« Franz Jochem sprach jedes einzelne Wort stotternd aus.
Harry hob die Schultern.
»Ich habe Angst…«
Ich auch, wollte Harry sagen, er wurde aber davon abgehalten, weil sich das Maul verzog. Aus der Öffnung wischte ein Zischen hervor, das sich anhörte, als wäre in der Nähe ein Gashahn aufgedreht worden. Es drang auch aus dem Maul etwas hervor. Dichter Nebel, aber trotzdem sahen die Wolken anders aus. Sie waren irgendwo feinstofflicher, erinnerten mehr an dünnes Gas, und Harry, der die Fratze noch immer anleuchtete, glaubte sogar, Gesichter in diesen Wolken zittern zu sehen.
»Wir müssen weg!« keuchte er. »Los, komm!«
Franz Jochem rührte sich nicht. Er stand zu sehr unter dem Bann des Unheimlichen.
Harry durfte ihn nicht an diesem finsteren Ort lassen. Er packte den Mann und schleuderte ihn herum. Jochem torkelte auf die Tür zu. Er redete dabei mit sich selbst, und er spürte kaum, daß er als erster in den Gang geschoben wurde, der leer vor ihm lag.
Harry Stahl drehte sich an der Tür noch einmal um. Der Nebel war noch da, aber er hatte sich vor der Fratze aufgelöst, und Harry hörte sehr wohl die gezischelten Worte.
»Rache! Rache für alles, was uns angetan wurde. Rache – nur die Rache aus dem Pandämonium…«
Mehr hörte er nicht, denn da hatte er die Tür von der anderen Seite wieder zugeworfen.
Jochem wartete an der Treppe auf ihn. Im Licht des Lampenstrahls wirkte sein Gesicht so bleich wie ein bemalter Mund. Er zitterte noch immer, und seine Lippen zitterten mit.
»Kommen Sie!«
Wie ein kleines Kind mußte der ehemalige Kommissar seinen Begleiter an die Hand nehmen. So hetzten sie stolpernd die Treppe hoch, noch immer getrieben von einer nie erlebten Furcht, zumindest was Franz Jochem anging.
Er konnte nur nach vorn schauen, und seine Augen waren in tiefer Furcht erstarrt. Leblos, er war einfach nicht mehr fähig, etwas zu sehen, denn er wollte weg, nur weg. Fort aus diesen Mauern des Schreckens, in denen er einmal gearbeitet hatte, von denen er jedoch nicht erwartet hatte, daß sich zwischen ihnen ein derartiges Grauen befand.
Sie erreichten das Freie, ohne daß ihnen etwas passiert wäre. Damit war es dann auch vorbei mit Franz Jochem. Er konnte nicht mehr. Seine letzte Rettung war die Mauer, gegen die er sich stützte und auch so stehenblieb,
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