0850 - Rache aus der Totenkammer
Die Wände schienen ihn auszulachen, und der veränderte Mensch erstickte beinahe an seiner eigenen Wut.
Er trug noch immer sein graues Unterhemd und dazu die schlabbrig an seinen Hüften nach unten hängende Unterhose. Er beeilte sich und war froh, das alles klappte und er auch den Griff des nach unten hängenden Spülbandes erreichen konnte. Er hängte sich daran, zog so fest wie möglich, hörte das Rauschen des Wassers und war zufrieden.
Sosehr er sich vorhin beeilt hatte, so vorsichtig war er beim Verlassen der Kabine. Er lugte erst durch den Türspalt, fand die Luft rein und lief wieder in den Flur.
Eine makabre, aber auch lächerliche Figur quälte sich die Stufen der Treppe hoch. Knochen, auf und über denen die Haut schlaff hing wie alte Lappen, die bei jeder Bewegung zuckte, die sich bewegte, die tanzte oder sich zusammenzog.
Unter ihm polterte jemand über die Holzstufen. Es waren die spielenden Kinder, die wieder einmal eine Jagd durch das Treppenhaus veranstalteten. Und sie waren schneller als er, wenn auch nicht größer, aber sie hatten nicht seine Probleme mit der schlaffen Haut, die auch unter seinen Füßen bei jedem Auftreten wegrollen wollte.
Er keuchte.
Er beeilte sich.
Er lief und kroch die Stufen hoch, während die helle Stimme eines Mädchens hinter seinem Rücken immer lauter wurde. »Fang mich doch! Fang mich doch! Du kriegst mich nicht…«
Der Veränderte stützte sich an der Wand ab, um den nötigen Halt zu bekommen. Er keuchte, der Mund war trocken, die Zunge hing ihm zwischen den Lippen hervor, und als er seine Wohnungstür erreichte, wuchtete er die Hand auf die Klinke und drückte die Tür nach innen, deren Gewicht ihn direkt mit hineintrug.
Genau in diesem Augenblick hatte das durch den Hausflur rennende Mädchen den Treppenabsatz erreicht und schaute über die Stufen hinweg nach oben. Es sah, wie eine kleine Gestalt in die Wohnung huschte, und es konnte nichts begreifen.
Noch nie hatte die Kleine ein Kind in dieser Etage gesehen. Sie sah nur den Rücken, das graue Unterzeug und auch die schlaffen Bewegungen darunter.
Das Kind stand vor einem Rätsel, aber es war stumm geworden – und schrak dann zusammen, als die Wohnungstür von innen her wuchtig ins Schloß gehämmert wurde.
Das Mädchen begriff nicht viel. Ihm war nur klar, daß in dieser Wohnung etwas Schauriges vorgefallen war. Das sagte ihm einfach der kindliche Instinkt, und der kam der Wahrheit oft genug sehr nahe.
Die Kleine ging wieder zurück. Bleich im Gesicht und langsamer, als sie die Stufen hochgelaufen war.
Egon Kraft aber torkelte durch sein Zimmer und stützte sich an einem Sessel ab. Die Finger in den Stoff hineingegraben, den Kopf nach vorn gedrückt, und der Haß überschwemmte ihn wie ein Woge. Er haßte alles. Seine Vergangenheit, die Gegenwart, er haßte sich selbst und auch die Menschen um ihn herum.
Sie würden, wenn sie ihn sahen, was ja nicht ausblieb, verspotten.
Sie würden über ihn reden, und sie würden die Polizei holen, die sich mit ihm beschäftigte.
Bisher hatte er bestimmten Fragen noch aus dem Weg gehen können, aber die neuen Leute waren dabei, die Vergangenheit des Landes aufzuarbeiten, und da mußten sie natürlich auf Typen wie Egon Kraft stoßen. Es hatte ja mehrere von ihnen gegeben, und auch nach dieser Wende bestanden die alten Verbindungen noch.
Das brachte ihn auf eine bestimmte Idee, die so stark war, daß er alles andere vergaß.
Verbindungen.
Damals waren sie fest gewesen. Er konnte sich noch gut an die Gelage erinnern, die er mit seinen Kollegen – alles keine Engel – durchgeführt hatten. Für diese Männer waren die Gefangenen eine willkommene Beute gewesen, und auch Rita Reinold hatte die anderen Aufseher gehaßt, wie er wußte.
Sie war als Geist zurückgekehrt und hatte sich an ihm gerächt.
Nur an ihm?
Plötzlich fing er an zu lachen. Es hörte sich beinahe an wie ein Schrei. Nein, er war bestimmt nur der erste gewesen, auch die anderen würden auf der Liste stehen, und er stellte sich vor, wie sie die gleiche Angst erlebten, die er durchlitten hatte.
Aber Kraft dachte auch weiter. Er ließ die Emotionen außen vor.
Er durfte sich nicht nur darüber freuen, wenn anderen das gleiche passierte. Nein, sie mußten wieder einen Kreis schließen, so wie sie es damals getan hatten, in den guten alten Zeiten.
Kraft wußte, wo die meisten von ihnen wohnten, und waren ihre Buden auch noch so mies, für eins hatten die meisten Bewohner gesorgt.
Das Telefon
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