0852 - Feuer, Asche, altes Blut
nicht der Fall war, denn die Zunge blieb im Mund.
Dafür zog der Mann seine Oberlippe für einen Moment so weit zurück, daß die Zähne sichtbar wurden.
Sie haben dieselbe Farbe wie das Haar, dachte Shao, dann aber froren die Gedanken ein, denn sie hatte etwas entdeckt, das sie für einen Moment entsetzte.
Zwei Zähne, die aus dem Oberkiefer wuchsen.
Lange Zähne, spitz, und der Vergleich von gelben Dolchen kam ihr in den Sinn.
Ein Vampir?
Himmel, das war…
»He, Shao, träumst du?« Sie spürte den Druck der Hand auf ihrer rechten Schulter, und es blieb ihr einfach nichts anderes übrig, als sich zu drehen.
Ellen Flint lachte sie an. »Du hättest mal sehen müssen, wie du ausgesehen hast, Shao.«
»Wie denn?«
»So, als wärst du nicht mehr hier, sondern sehr weit fort. Mit den Gedanken, meine ich. Ich denke, daß du die Arbeit noch nicht verkraftet hast und einen Kaffee brauchst.«
Shao blähte die Wangen auf und pustete die Luft nach draußen.
»Ja, das glaube ich auch.« Dann strich sie über ihre Augen und schrak noch während der Bewegung zusammen, als wäre ihr etwas eingefallen. Letztendlich war es auch so, denn sie dachte wieder an den Kerl im grünen Kaftan oder was auch immer…
Er war nicht mehr da.
Weg, abgetaucht – wie vom Erdboden verschwunden. In der Masse untergegangen.
Shao schaute die anderen Passanten verwundert an, kam wieder ans Nachdenken und sagte sich, daß der Mann genügend Zeit gehabt hatte, sich zu verkrümeln.
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was eigentlich los ist, Shao. Du stehst hier wie ein Figur oder eine Fremde, die überlegt, ob sie sich in London oder Paris aufhält.«
»Du wirst lachen, Ellen, aber so fremd komme ich mir auch vor.«
»Hör auf. Was war denn los?«
»Ich… ich habe da einen Typen gesehen …«
»Toll? Interessant?«
»Nein, weiß ich nicht. Eher außergewöhnlich auf eine gewisse Art und Weise. Haare blondgelb, ein weibisches Gesicht, grüne Augen, der Nacken so gut wie ausrasiert. Er trug eine grüne Kutte, und als er den Mund öffnete, da… da …« Sie stockte.
»Was war da?«
Shao winkte ab. »Ach nichts, vergiß es.« Sie hütete sich davon, Ellen von den Zähnen zu berichten. Die »Schulfreundin« war nicht eingeweiht worden. Sie wußte weder über Shaos Schicksal etwas und wußte auch nicht, welchem Beruf Shaos Partner, Suko, nachging. Das hätte ihrer Meinung nach nur zu Komplikationen geführt.
Shao hatte Ellen berichtet, daß ihr Partner ein Angestellter bei der Stadt London war und einen ziemlich trockenen Job hatte.
»Wie ist es jetzt mit dem Kaffee, Shao? Ich habe mit meiner Mutter gesprochen und frei bekommen.«
Die Chinesin lachte. »Und ob. Es wird auch nicht nur bei einer Tasse bleiben.«
»Dann komm endlich.«
Sie brauchten nur über den breiten Gehsteig zu laufen, um ihr Ziel zu erreichen. Das Café gehörte zu dieser modernen Passage, die innerhalb eines alten Bauwerks errichtet worden war. Man hatte recht auffällig gebaut, die alte Bausubstanz war teilweise geblieben und durch Glas und blau lackierten Stahl »veredelt« worden.
Das Café war zwar gut besucht, aber nicht überfüllt. Sie kriegten noch einen Tisch für sich.
So mancher Mann riskierte ein Auge oder auch zwei, als die Frauen den Laden betraten. Vor allen Dingen Shao erntete Bewunderung. Sie sah auch toll aus. Für eine Chinesin war sie ziemlich groß, und das lange Haar floß wie dunkles Wasser bis auf ihren Rücken. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht und nicht den oft sehr runden Kopf wie viele ihrer Landsleute. Sie erinnerte mehr an eine Frau aus den südlicheren Gefilden, Malaysia oder Thailand.
Zur schwarzen Hose trug sie einen locker fallenden karmesinroten Pullover, und ihr leichter grauer Wollmantel war modern geschnitten und schwang hinter ihr her.
Sie fanden zwei leer Stühle in einer Ecke. Zwischen ihnen stand ein viereckiger Tisch. Die Platte sah so aus wie die Fliesen am Boden. Sie zeigte ein braunbeiges Muster. Die Stühle bestanden ebenfalls aus blau lackiertem Stahl, nur die Sitzfläche war aus Holz und durch Kissen bequemer gemacht worden.
Ellen breitete die Arme aus. »Hier läßt es sich aushalten!« sagte sie und lehnte sich zurück, wobei sie die Augen schloß. »War eine tolle Idee von dir, Shao.«
»Danke.« Die Chinesin hatte bereits nach der schmalen Karte gegriffen und schlug sie auf. Sie konnte sich nicht so recht auf das Ausgedruckte konzentrieren, denn immer wieder sah sie das Bild des Mannes mit
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