0860 - Die Blutbank von Venedig
sein und den Vampiren gehören. Du wirst mächtiger sein denn je, mio figlio.«
Die beiden befanden sich in einem altertümlichen Gelehrtenarbeitszimmer mit einem Astrolabium auf dem Tisch. Dabei handelte es sich um ein astronomisches Instrument in Scheibenform mit einem Visiergerät.
Auf mechanische Weise konnte man damit astronomische Berechnungen vornehmen, Längen- und Breitengradebestimmen und astrologische Aufgaben lösen. Das Astrolabium im Palazzo Morte diente zudem magischen Zwecken.
Es war viel Zeit vergangen, seit der Mönch Benedetto die Vampire in der Krypta im Dogenpalast eingesperrt hatte. La Genovesa war von seinem Schwerthieb furchtbar gezeichnet, was sie nie verwunden hatte. Die geweihte Klinge des Dogen Dandolo war ihr von der rechten Schulter her tief in die Brust gefahren.
Die Hexe hatte es überlebt, doch seitdem war sie eine gespaltene Persönlichkeit, körperlich jedenfalls. Auf der rechten Seite war sie uralt, mit schlohweißem Haar, völlig verdorrt und ungeheuer häßlich. Ihre linke Körperhälfte jedoch war die einer blühenden, reizvollen schwarzhaarigen Frau.
Sie trug ein rotes, tief ausgeschnittenes Kleid und glitzernden Schmuck. Ungern dachte sie an die Zeit, als sie in der Krypta eingesperrt gewesen waren. Der Hexenzauber hatte die Teufelsanbeter dort am Leben erhalten.
Doch sie wären zugrunde gegangen, und auch La Genovesa wäre im Lauf der Jahrhunderte verdorrt, wenn man ihre Überreste nicht schon vorher verbrannt hätte. Doch dann war Hilfe gekommen.
»Was jetzt?«, fragte der Alte Umberto seine schaurige Mutter, die wegen ihrer Verkrüppelung durch den Schwerthieb nur ungleichmäßig und grotesk gehen konnte.
Meist schwebte sie deshalb durch Hexerei eine Handbreit über den Boden dahin.
»Wir führen den Plan durch«, erwiderte die Vampir-Hexe mit krächzender Stimme. »D'Annocchio ist ein Idiot. Ich kann ihn nicht dirigieren. Sich mit Amuletten und durch Bannsprüche zu schützen, bringt er immerhin fertig. Aber ich vermag seine Gedanken zu lesen, was bei Zamorra und der Frau in seiner Begleitung nicht der Fall ist. D'Annocchio hält sie für eine Hexe, und er hat allen Hexen den Tod geschworen. Ich weiß, was er vorhat.«
Sie raunte es ihrem Sohn ins Ohr.
»Er arbeitet uns in die Hände«, sagte sie dann. »Auf die Weise kriegen wir ihn. Und Zamorra…« Sie entwickelte ihrem Sohn ihren Plan.
Er küsste ihre stockhäßliche Fratze. »Mutter, du bist ein Genie.«
Die Alte kicherte. »Ja, Söhnchen, da hast du recht. Die Wächter der Scalbas , diese Narren, können uns nicht gefährlich werden. Wir werden ihr Blut trinken. Doch jetzt lass uns den Anschlag auf Zamorra planen…«
Der Alte Umberto hörte zu. Er hatte bei seiner Mutter noch nie viel zu melden gehabt, nicht einmal, als er der Doge gewesen war. La Genovesa hatte immer die Fäden gezogen.
Der Alte Umberto war immer noch hochgewachsen, ausgemergelt, mit schlohweißem, bis auf den Gürtel niederfallendem Bart und schulterlang wallendem Haar. Er trug teure Prunkgewänder und eine schwere goldene Amtskette, Abzeichen der Dogenwürde, die er nie verdient gehabt hatte.
Doch wo andere alte Menschen Ehrfurcht gebietend wirkten, erschien er nur verworfen und ungeheuer böse. Die Bosheit von Jahrhunderten, teuflische Exzesse und die Blutsauferei hatten ihn geprägt. In der vergangenen Nacht war er dabei gewesen, als die Vampire in der Blutbank oben über die beiden jungen Schweizer herfielen, die auf dämonische Weise hergebracht worden waren.
Da hatte er sich als ein ausgemergelter Schatten mit rot glühenden Augen gezeigt. Jetzt war es anders.
»So soll es geschehen«, sagte er schließlich, als die Konferenz mit seiner Mutter endete. Er drehte am Astrolabium. »So soll es sein. Unsere Vampire fliegen, wenn die Sonne untergeht, nicht in Scharen, das ist bisher noch nicht möglich. Doch wir können welche schicken, um Zamorra anzugreifen. Wie viele?«
»Was schlägst du vor, Umberto?«
»Ein halbes Dutzend dürfte ausreichend sein. Mehr können wir nicht aufbieten für den weißmagischen Schuft. Ich hoffe bloß, er wird in den Kanälen unterwegs sein, in einer Gondel vielleicht. Oder - man müsste ihn dahin locken. Das wäre ideal.«
»Das ist eine sehr gute Idee, Söhnchen. Ich bin stolz auf dich.«
Damit war die Unterredung beendet. Die Falle wurde gestellt…
***
Die barocke Barfüßerkirche befand sich direkt beim Hauptbahnhof und dem schräg gegenüberliegenden Piazzale Roma, dem Busbahnhof. Hier
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