0861 - Gefangene der Namenlosen
richtig.«
»Vielleicht.« Sie lachte. »Es kann sein. Den Vater kenne ich nicht, aber die Mutter ist hier aus dem Ort. Sie heißt Naomi, ist bei ihrer Tante Serafina und bei ihrem Onkel aufgewachsen. Sie war eine Waise. Sie hat keinen Mann gehabt, aber sie hatte einen dicken Bauch. Die Leute haben sich wegen ihr geschämt, und sie ist eines Tages verschwunden.«
»Wohin?«
»Keine Ahnung.«
»Das ist seltsam.«
»Stimmt, Signore.«
»Weißt du denn noch mehr?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur daß die Menschen hier Angst haben. Es ist nicht mehr so wie früher. Die Kinder gehen kaum noch auf die Straße, um zu spielen. Sie haben alle Angst vor den beiden mit den Riesenkräften, das ist einfach schrecklich.«
Wir glaubten ihr, und wir hatten so einiges gehört. Wichtig war jetzt die Mutter. Noch einmal hakten wir nach und erkündigten uns, wo sie wohl sein könnte.
Wieder erinnerte Carla an das Kloster.
»Weißt du denn, wie wir dorthin kommen?«
»Aber ich fahre nicht mit.«
»Das brauchst du auch nicht.«
Sie erklärte es uns. Es war einfach. Wir mußte auf diesem Weg bleiben und dort abbiegen, wo ein großer kantiger Stein aus dem Boden wuchs, der auf einen Felsenweg hinwies. »Mit dem Auto kann man dort nicht herfahren. Sie müssen zu Fuß gehen.«
»Das macht uns nichts.«
»Was weißt du denn von dem Vater?« fragte der Abbé.
Carla hob die Schultern. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich… ich kenne ihn gar nicht, aber die Erwachsenen haben mal seinen Namen genannt. Woher sie ihn wissen, kann ich nicht sagen.«
Der Abbé lächelte Carla zu. »Du hast uns sehr viel geholfen, dafür sind wir dir dankbar.«
»Dann kann ich jetzt gehen?«
»Sicher.«
»Aber bitte nichts meinem Vater sagen. Er hat auch Angst – wie all die anderen.«
»Du nicht? Was ist der Grund?«
Carla hatte schon die Tür öffnen wollen, überlegte es sich aber.
»Tomi ist mein Freund gewesen.«
»Der Hund?«
»Ja.«
»Dann ist alles klar.«
Ich ließ sie noch nicht aussteigen und rückte mit einem anderen Vorschlag heraus. Da Carla unsere Sprache wohl nicht verstand, konnte ich frei reden. Ich war nicht dafür, daß wir zu dritt zum Kloster hinfuhren. Einer konnte durchaus im Dorf bleiben, in Carlas Nähe, die sich ja auskannte.
»Wer fährt hoch zum Kloster?« fragte ich.
Der Abbé hob die Hand.
Suko meldete sich freiwillig. »Okay, dann bleibe ich zurück und halte in Trivino die Stellung.«
»Nein!« widersprach ich, »das mache ich. Ich komme sprachlich besser mit Carla zurecht.«
»Auch gut.«
Mit wenigen Worten erklärte ich dem Mädchen mein Vorhaben.
Carla hatte nichts dagegen, wenn ich an ihrer Seite blieb. Sie freute sich sogar über die Abwechslung.
Also stieg ich aus und ging mit ihr zurück. Sie hatte mir einige Namen genannt, über die ich noch mit ihr reden wollte. Aber nicht nur das. Es würde auch interessant sein, mit den Leuten zu sprechen…
***
Wie hatten sich die beiden Kinder verändert!
Naomi erschrak, als sie die Zwillinge sah. Waren das noch ihre Kinder? Waren das die beiden, bei deren Anblick sie beinahe dem Wahnsinn verfallen war?
Sie konnte es nicht glauben, denn diese Jungen waren innerhalb kürzester Zeit so unwahrscheinlich groß geworden, daß es dafür keine Erklärung gab. Das mußte im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Teufel zugegangen sein. Naomi hockte auf ihrem Bett und war zu einem zittrigen Bündel geworden. Trotzdem hatte sie noch immer die Nerven, sich vorzustellen, daß ihr die Jungen schon bis über die Hüfte reichten. Sie würden auch weiterhin wachsen und vielleicht in kürzester Zeit, in wenigen Tagen oder auch nur Stunden, erwachsen sein. Möglicherweise auch mit Gehörn auf dem Kopf.
Sie kamen näher, und Gittas Stimme begleitete sie. »Da, da ist eure Mutter. Schaut sie euch an, wie sie euch anstarrt, als könnte sie nicht glauben, daß ihr ihre Kinder seid. Aber ihr seid es, ich weiß es ganz genau.«
Sie lächelten.
Es war ein böses, ein gieriges Lächeln. Ihr Haar war hell und lockig, es wuchs jetzt länger in den Nacken, und beide hatten die gleiche feine Haut. Sobald sich ihre Münder jedoch zu einem Lächeln verzerrten, wirkten die Gesichter wie dämonische Fratzen, hinter denen sich die Normalität versteckte.
Auch Naomi konnte sie nicht beschreiben. Hätten sie ausgesehen wie Monstren, wäre ihr alles leichter gefallen, so aber fiel ihr zu den eiskalten Typen nichts ein, die jetzt vor ihrem Bett standen und sie anschauten.
Gitta kicherte.
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