0861 - Gefangene der Namenlosen
der Hut«, riet ich ihm, »halten Sie die Augen weit offen. Es könnte sein, daß nichts mehr so ist, wie Sie es gewohnt sind.«
Luigi nickte nur. Er sprach auch kein Wort, als wir den Stall verließen. Draußen trat Carla einige Male mit dem rechten Fuß auf.
»Ich habe es gewußt«, regte sie sich auf. »Die… die Leute hier haben einfach nur Schiß.«
»Kann man es ihnen verdenken?«
»Aber ich habe doch keine Angst.«
Da mußte ich lachen. »Du bist auch etwas Besonderes, meine Kleine.«
»Bin ich nicht. Ich will nur, daß alles wieder so wird wir früher. Sollen wir jetzt zu Serafina gehen? Dahin, wo die Mutter viele Jahre mal gelebt hat?«
»Sicher.«
»Sie wird sehr einsam sein. Ihr Mann ist nicht da. Er arbeitet in Locarno in einem Hotel. Manchmal kommt er im Sommer wochenlang nicht nach Trivino zurück. Darunter hat sie sehr gelitten.«
»Du kennst dich aber gut aus«, wunderte ich mich.
»Das hat mir meine Mutter gesagt.«
»Ah – so ist das.«
Der Weg zu Serafinas Haus war nicht weit. Außerdem wollten wir uns nicht mehr verstecken. Carla war es egal, was später ihre Eltern dachten, sie ging offen neben mir her, und wir mußten über einen schmalen Weg gehen, der an der linken Seite durch einen primitiven Holzzaun abgesichert war, weil das Gelände hinter ihm so steil wie in einer Schlucht abfiel. Sehr schmal blieb der Weg auch, der sich an den Rückseiten der Häuser entlangzog. Eine Frau sah uns, die dabei war, Blumentöpfe auf eine schmale Fensterbank zu stellen. Als Carla sie grüßte, zog sie sich zurück. Das Mädchen lachte. »So ist es hier überall, John. Glaub nur nicht, daß die Menschen nichts gemerkt haben. Auch wenn es so ruhig aussieht, es hat sich schnell herumgesprochen, daß Fremde eingetroffen sind. Jetzt sitzen die Leute in ihren Häusern und warten ab.«
»Das denke ich auch.«
Serafinas Haus war das letzte in der Reihe, mit der Frontseite zu der Straße hin, die man mit viel gutem Willen als Hauptstraße bezeichnen konnte.
Wir gingen über ein kleines Stück Wiese an der rechten Seite des Hauses entlang, drehten uns und standen schließlich vor dem Eingang. Wie überall schaute auch ich hier auf eine Holztür, die einen anderen Farbton aufwies als die Steine.
Hinter den Fenstern, deren Scheiben dunkel aussahen, rührte sich nichts. Carla hatte einen Finger gegen ihr Kinn gedrückt. »Bestimmt hat sie uns gesehen, John. Sie… sie will sich nur nicht zeigen. Sie hat Angst, denke ich.«
»Wovor?«
»Vor uns, vor dir, auch vor der Erinnerung.«
Ich mußte lächeln. »Himmel, Carla, du redest ja wie eine Erwachsene.«
»Hier ist man mit zwölf Jahren auch schon so gut wie erwachsen.«
Darauf konnte ich nichts erwidern, sie wußte es besser. Dafür ging ich vor und stoppte erst vor der starken Bohlentür. Ich klopfte sicherheitshalber an, wartete die Antwort nicht ab, sondern drückte die Tür auf.
Stille empfing uns.
Dicht hinter mir räusperte sich Carla, bevor sie flüsterte: »Das ist aber seltsam.«
»Was denn?«
»Die Stille.«
»Es ist wohl niemand im Haus.« Ich trat in den großen Raum, schaute mich um und fand es aufgeräumt. Die Einrichtung hätte auch in ein Museum gepaßt, abgesehen von dem Fernseher.
»Es gibt auch noch andere Räume«, sagte das Mädchen leise. »Ich weiß auch, wo Naomi gelebt hat.«
»Und?«
Sie zeigte nach links. »Hinter der schmalen Tür beginnt ein schmaler Flur. Da müssen wir hin. Es ist die Tür auf der rechten Seite. Ich war früher öfter bei ihr.«
»Okay.«
Ich bewegte mich in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper, der irgend etwas erwartete, aber nicht wußte, was auf ihn zukam. Ich hatte einfach den Eindruck, daß es so glatt wie jetzt nicht weitergehen würde, und ich war beinahe ein wenig enttäuscht, als der enge Flur mit den hellen Holzwänden leer vor mir lag.
An der rechten Seite war die Tür.
Sie war nicht einmal geschlossen. Ich schaute durch einen Spalt in ein düsteres Zimmer, wo praktisch für mich nichts zu erkennen war. Dann zog ich die Tür mit einem Ruck auf.
Auch jetzt war nicht viel zu sehen, denn das Fenster zeigte nach hinten zum Hang hin, und der nahm nun mal Licht weg.
Auf dem Bett lag etwas. Beim ersten Hinsehen sah es so aus, als hätte jemand einige Kleidungsstücke aufeinander geworfen und anschließend vergessen, sie abzuholen.
Sehr langsam schritt ich auf das Bett zu. Unter meinen Füßen knarzten die Bohlen.
Meine junge Begleiterin dachte praktisch, denn sie schaltete das Licht
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